Nordrumänien: Wo die Uhren die Ewigkeit messen

16.09.2016 | Stand 16.09.2016, 17:00 Uhr

Hat beinahe Festivalcharakter: Pilger, Trachtengruppen und Chöre treffen sich am Maria-Himmelfahrtstag in Moisei.

Rumäniens Abgeschiedenheit hat es zur gängigen Redewendung gebracht: "Irgendwo in der Walachei" meint selten die gleichnamige Region rund um die Hauptstadt Bukarest, sondern eine Gegend fern jeder Zivilisation. Auch Transsilvanien, dank Dracula weitum bekannt, heißt übersetzt "jenseits des Waldes." Doch wahre Abgeschiedenheit findet man weder im hektischen Bukarest noch in den touristischen Dracula-Burgen Siebenbürgens. Wer nach ihr sucht, sollte sich auf Zeitreise in die Maramures begeben.

So nämlich heißt Rumäniens kleinste Region, die es sich am äußersten Nordrand des Landes, beinahe an die Ukraine geschmiegt, gemütlich gemacht hat. Die "Marmarosch" und den Rest des Landes trennen nicht nur gefühlte hundert Jahre an technologischer Entwicklung, weshalb die Kleidung noch im Bach gewaschen wird und Pferdekutschen das Straßenbild prägen. Wer hierher will, muss eine lange Fahrt auf schlecht asphaltierten Landstraßen in Kauf nehmen, im Gleichklang mit einem Autoradio, das immer wieder in ein tiefes Rauschen verfällt.

Jeder Meter, den sich die holprige Straße weiter ins Tal schlängelt, lässt die Regentropfen auf der Autoscheibe dichter zusammenrücken. Die zahllosen, mühsam per Handarbeit zu Kegeln gebundenen Heuballen, die Rumänien-Besucher gerne fotografieren, verschwimmen in der tiefgrünen Landschaft. Bald regnet es in Strömen vom grauen Himmel herab. Ein denkbar schlechter Tag für Maria, deren Himmelfahrt die orthodoxen Bewohner der Maramures heute feiern.

Plötzlich ragt ein riesiges, mit Schnitzereien verziertes Holztor über die Straße. Spätestens jetzt gilt das Zeitgefühl der Maramures auch auf dem Papier. Zwar trennt die Gegend nur eine Stunde Zeitverschiebung von Mitteleuropa, die Uhren messen hier einem Sprichwort zufolge aber gar nicht die Zeit, sondern die Ewigkeit. Eine Weisheit, die die Bewohner nicht zu verstecken gedenken.

Obwohl es noch früh am Morgen ist, stehen einige Frauen in Sâcel, dem ersten Dorf im Iza-Tal hinter der Provinzgrenze, bereits in traditioneller Tracht vor ihren Häusern. Das fremde Nummernschild aus dem 500 Kilometer entfernten Bukarest beäugen sie neugierig, fast misstrauisch. Erst meine in Bruchstücken verschiedener romanischer Sprachen formulierte Frage nach dem Weg zum Kloster Moisei würdigen die Damen mit einem warmen Lächeln. Tiefe Falten sprechen aus ihren Gesichtern, das ergraute Haar wird von buntbestickten Kopftüchern bedeckt. Sie deuten in Richtung Moisei, für mein "Multumesc" zum Dank ernte ich ihren Respekt.

Warum sie wohl so früh vor ihren Häusern stehen, noch dazu am Feiertag? Hätte man ihnen die Mitfahrt anbieten sollen? Autos parken nur vor wenigen Häusern. Doch die Fahrt durch die Maramures beantwortet beide Fragen von selbst. Den ganzen Tag über sieht man Dorfbewohner vor ihren Häusern stehen. Dort findet das Leben statt, unterhalten sich die Bewohner über Zäune hinweg.

Kunstvoll geschnitzte Holzbögen stehen vor den meisten Häusern. Egal wie klein diese hinter den Toren sind – Wohlstand und Ansehen einer Familie werden in den Holztoren zum Ausdruck gebracht, die das Eigenheim teils deutlich überragen. Ein Auto als Statussymbol scheint nicht nötig zu sein. Auch nicht, um nach Moisei zu gelangen. Viele Menschen gehen zu Fuß zum Wallfahrtskloster hoch.

Obwohl die meisten der adretten Holzkirchen, mit denen die Maramures gleich siebenfach im UNESCOWeltkulturerbe vertreten ist, an Mariä Himmelfahrt eine Messfeier zelebrieren, zieht es viele zu der bekanntesten Marienprozession der Region. Kilometerweit schlängelt sich die schmale Straße den Berg hoch, die wachsende Karawane an Trachtengruppen hält das nicht auf. Am Wegesrand bereiten sich Fieranten bereits am Morgen für den Heimweg der hungrigen Pilger vor und stecken Zelte zusammen, als gelte es, im Eiltempo eine Kirmes aus dem Boden zu stampfen.

Tatsächlich weist die Wallfahrt Züge eines Festivals auf. Überall im Klostergelände stehen Zelte von Pilgern, die bereits am Vortag angereist sind. Hunderte haben sich auf dem Klosterberg eingefunden. Während auf der zentralen Altarempore mehrere Geistliche eine Morgenmesse feiern, die durch Lautsprecher übertragen wird, strömen zahlreiche Pilger in das Innere des Klosters.

Andächtig werden die Wandmalereien mit orthodoxen Heiligen geküsst. Ein Marienbildnis darf sich sogar über Taschengeld freuen: Grüne Ein-Lei-Scheine wandern auf eine Ablage, bevor sich die Gläubigen kniend bekreuzigen. An einem Hintereingang verteilt ein Priester die Heilige Kommunion, die die Gläubigen mit leuchtenden Kerzen in der Hand empfangen – vorausgesetzt, sie haben zuvor gebeichtet.

"Your confession?", fragt ein Priester in gebrochenem Englisch, kaum dass er mich als wohl einzigen Ausländer auf dem Gelände identifiziert hat. Doch an meinem katholischen Glauben stört er sich nicht. "Ach, wir sind doch alle Christen. Nur muss man beichten, bevor man zur Kommunion treten darf", sagt er freundlich grinsend.

Unterdessen läuft ein nicht enden wollender Strom an Chorgruppen um das Kloster und die Holzkirche herum und hält Standarten mit Marienstickereien in die Luft. Jede der Abordnungen singt ein anderes Lied, was die Wallfahrt in Verbindung mit den Lautsprechergebeten zu einem wilden, aber einzigartigen Klangerlebnis macht.

Geradezu gespenstisch ruhig wirkt im Gegensatz dazu die grüne Hügellandschaft, die von dichten Nebelschwaden eingehüllt wird. Am Rand bei den Zelten flicht eine in Tracht gekleidete Frau ihrer Tochter noch schnell einen Zopf, bevor sie sich zum Ritus hinzugesellen. Zum Feiertag soll alles in bester Ordnung sein – auch wenn sich einige Sneaker und Jeans unter den Pilgern finden, tragen die meisten Tracht in verschiedenster Ausarbeitung. Übrigens nicht nur an den Hochfesten – der Sonntagsrock ist in der Maramures noch nicht ausgestorben: Am Tag des Herrn wird im Norden Rumäniens grundsätzlich Festtagstracht getragen.

Rund 30 Kilometer weiter im Izatal lässt das wohl bekannteste Fotomotiv der Maramures ein massentouristisches Erlebnis befürchten. Es staut sich schon weit vor dem Ortseingang von Bârsana, die schmale Landstraße ist zu beiden Seiten zugeparkt.

Doch auch hier sind es größtenteils in Tracht gekleidete Pilger, die sich durch das blumengeschmückte Kloster bewegen. Womit Bârsana den Vermerk als Weltkulturerbe erlangt hat, ist schnell ausgemacht: Die überall im Iza- und Maratal verteilten Holzkirchen finden hier zu einem gigantischen Ensemble zusammen. Neben der 57 Meter hohen Kirche sind auch alle übrigen Gebäude aus Holz. Eindrucksvoll winden sich die Holzziegel in gewellter Form um die spitz zulaufenden Türmchen. Auch im Inneren bleibt sich die Kirche treu, hölzern sind die detailliert bemalten Wände und Decken, die Fresken bis hin zum Kronleuchter.

Die aus dem Kirchturm schallenden Gesänge hüllen das Areal in eine fast fernöstliche Atmosphäre. Auf einer Parkbank haben Mutter und Sohn Platz genommen. Sie könnten unterschiedlicher nicht aussehen: Die Mutter in Sonntagstracht, ihr Sohn in Jeans und Turnschuhen. Ob das 21. Jahrhundert doch langsam auch die Maramures einholt? Ein Mädchen zeigt die Kompromisslösung: Mit einem iPhone 6 fotografiert sie ihre Mutter vor einer der Holzkirchen. Dabei ist die Kleine in ihrer Festtagstracht und dem geblümten Kopftuch das eigentliche Fotomotiv für einige Schaulustige.

Als Besucher sollte man es dennoch nicht drauf ankommen lassen, dass die Uhren auch in der Maramures irgendwann die Zeit messen – und einer touristischen Erschließung zuvorkommen. Die Ewigkeit hat schöne Orte noch selten vor der Entdeckung bewahrt.

PNP-Stipendiat Lukas Lange hat die Maramures während einer Rumänien-Reise auf eigene Faust bereist – und im Vergleich zum Dracula-Tourismus in Transsilvanien die Ruhe in den Tälern genossen.