Am 20. Juli jährt sich zum 80. Mal das Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler. Der Ort des Geschehens steht Touristen offen - als Zeugnis von Größenwahn und Menschenverachtung der Nazi-Diktatur.
Ein flaues Gefühl im Magen macht sich breit, an meinen Armen kriecht langsam Gänsehaut hoch, als ich am Eingang der „Wolfsschanze“ stehe. Hier also, an der Zufahrt zum berüchtigten „Führerhauptquartier“ Adolf Hitlers, hat mein Vater vor 80 Jahren Wache geschoben.
Irgendwann einmal hat er mir erzählt, dass er Feldwebel im „Wachregiment Großdeutschland“ war. Dass er ein- und ausfahrende Nazi-Größen zackig zu grüßen und weniger prominente Besucher streng zu kontrollieren hatte.
Viel mehr wusste ich bis zu diesem Tag in der „Wolfsschanze“ nicht über die Kriegsjahre meines Vaters. Wie er sie erlebt, wie er sie überlebt hat.
Selten hat er, wie die meisten Väter der Kriegsgeneration, mit seinem Sohn über die Zeit der Nazi-Diktatur gesprochen – und nur beiläufig hat er vor vielen Jahren beim gemeinsamen Betrachten einer Fernsehdokumentation über das Stauffenberg-Attentat plötzlich gesagt: „Das hab‘ ich damals selber miterlebt. Du kannst dir nicht vorstellen, was da bei uns Wachposten los war.“
Ich kann es mir noch heute lebhaft vorstellen. Doch von meinem Vater habe ich mehr als die zwei dürren Sätze über den 20. Juli 1944, der zu den denkwürdigsten Tagen der jüngeren deutschen Geschichte zählt, nie gehört.
Endlich als Ort der Mahnung und Erinnerung gepflegt
Dafür sprechen die Überbleibsel der „Wolfsschanze“, Tarnname dieses militärischen Lagezentrums der deutschen Wehrmacht, Bände. Jahrzehntelang war der riesige Bunkerkomplex in den dichten Wäldern von Kętrzyn (vormals Rastenburg) in Vergessenheit geraten; jetzt endlich wird er als Ort der Mahnung und Erinnerung gepflegt.
Wo die menschlichen Zeitzeugen sterben und rar werden, müssen steinerne Zeugen an ihre Stelle treten: Orte der Opfer wie Auschwitz und Buchenwald; Orte der Täter wie das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg; oder ein Ort wie die „Wolfsschanze“, der für Opfer und Täter zugleich steht.
„Man hat hier viel Wert auf eine saubere Aufarbeitung dieser Zeit gelegt“, sagt die Lehrerin Agnieszka Zduniak, die mich durch die Anlage führt. Vor allem der Kartenraum der Baracke, in der Claus Schenck Graf von Stauffenberg das Attentat auf Adolf Hitler verübte, ist von der polnischen „Wolfsschanze“-Verwaltung akribisch rekonstruiert worden.
Lebensgroß steht die Figur Hitlers vor dem massiven Eichentisch, an dem Stauffenberg seine Aktentasche mit Sprengstoff platziert hatte, ehe er unter einem Vorwand den Kartenraum verließ. Man kennt das tragische Ende des Attentats: Die Bombe explodierte zwar, doch der schwere Tisch schirmte Hitler weitgehend ab; er wurde nur leicht verletzt.
Vier Offiziere, die an der Lagebesprechung teilnahmen, kamen ums Leben. Stauffenberg und drei seiner Mitverschwörer wurden verhaftet und nur wenige Stunden nach dem gescheiterten Attentat in Berlin hingerichtet.
Betonwüste zeugt von Größenwahn
Neben Berlin war die „Wolfsschanze“ über viele Jahre quasi die zweite Hauptstadt des Dritten Reiches. Kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 ließ Hitler im damals ostpreußischen Masuren sein Kommandozentrum einrichten.
50 Bunker, 70 Unterkünfte für die Wachsoldaten und Hitlers Entourage, zwei Flugplätze, ein Bahnhof und diverse Stellungen für Flugabwehrgeschütze gehörten zum „Führerhauptquartier“, in dem Hitler über 900 Tage gelebt, den Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion und die blutige Niederschlagung des Warschauer Aufstands gesteuert hat.
Als russische Truppen 1945 in Ostpreußen vorrückten, gab der Diktator zwar den Befehl, die Anlage dem Erdboden gleichzumachen. Doch wirklich gelungen ist das nicht: Bis auf den heutigen Tag zeugt eine gewaltige Betonwüste vom Größenwahnsinn und der Menschenverachtung der Nazi-Diktatur.
Neun Meter dick waren die Betonwände und -decken des „Führerbunkers“. Immerhin sechs Meter schützten Nazi-Größen wie Göring oder ausländische Staatsgäste wie den italienischen Diktator Mussolini und den Rumänen Antonescu. Die Erzählungen von Agnieszka Zduniak und ihrer Kollegin Iwona Krzyskowska lassen das Leben darin ein Stück greifbar werden. Mich haben sie beeindruckt und bewegt, weil sie nicht nur Teil der Zeitgeschichte, sondern auch ein Stück meiner Familiengeschichte sind.
Es sind Anekdoten, aber auch sie sprechen Bände. Weil Hitler an Schlaflosigkeit litt, mussten sich seine engsten Mitarbeiter oft bis zum Morgengrauen dessen schier endlosen Monologe anhören. Und was immer der „Führer“ sagte, wurde von einem kleinen Heer von Stenografen notiert, weil Hitler glaubte, es für die Nachwelt festhalten zu müssen. Die meisten Notizen freilich sind verbrannt, nur ein Prozent ist bis heute erhalten und im Bundesarchiv gespeichert.
„Hitler mochte das Leben im Bunker nicht“, sagt Agnieszka, „obwohl er auf 80 Quadratmetern in holzvertäfelten Zimmern mit aufgemalten Fenster- und Türsimulationen wohnen konnte.“ Selbst hat er seine Wohnverhältnisse „bescheiden“ genannt und sich gebrüstet, dass er lebe „wie seine Soldaten.“
Wobei er geflissentlich vergaß, dass die draußen im Dreck um ihr Leben kämpfen mussten und dabei nicht neun Meter Beton über ihren Köpfen hatten. Auch mein Vater und seine Kameraden von der Wachmannschaft, das schießt mir beim Rundgang um den „Führerbunker“ durch den Kopf, hätten bei einem Fliegerangriff keine Chance gehabt: Ihre Unterkünfte lagen weit außerhalb des Bunkerareals. Geschützt wurden die, die Hitler schützen mussten, nie.
Der Hund war Hitler wichtiger
Gefallen fand Hitler vor allem an seiner Schäferhündin Blondie, die er auf einer Wiese vor seinem Bunker trainierte und stundenlang ausführte. „Er hat einmal gesagt, dass ihm sein Hund wichtiger ist als alle Menschen in seiner Umgebung“, erzählt Agnieszka– ein Satz, der alles über einen Diktator sagt, der für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich ist.
340.000 Besucher zählt die „Wolfsschanze“ jedes Jahr. Viele davon kommen aus Deutschland, die meisten aus Neugier und echtem historischem Interesse. Natürlich sind auch alte und neue Nazis darunter – wie viele, weiß die Verwaltung nicht. Fremdenführerin Iwona Krzyskowska sagt nur: „Das ganze Gelände ist rund um die Uhr geschützt und wird kontrolliert. Wir haben auch überall Kameras. Die Anlage ist keine Gedenkstätte für Neonazis, aber es gibt keine Statistik über solche Besucher.“
Vor zehn Jahren, als das Gelände noch in den Händen eines privaten Pächters war, sah die Sache anders aus. Da durften Besucher mit Panzer- und Kübelwagen durch die „Wolfsschanze“ brettern und in einem Bunker mit MP-Attrappen schießen. Das martialische Treiben war Anwohnern und Lokalpolitikern lange ein Dorn im Auge. 2017 endlich übernahm die polnische Forstbehörde die Anlage und begann mit der Restaurierung.
Tür an Tür mit dem Hitler-Vertrauten
Restaurierungsmaßnahmen sind auch in dem Dorf Sztynort (ehemals Steinort), gut 25 Kilometer von der „Wolfsschanze“ entfernt, in vollem Gange. Am masurischen Dargin-See, von dessen Schönheit mein Vater immer geschwärmt hat und der heutzutage zehntausende Bootstouristen und Badegäste anzieht, liegt der alte, halb verfallene Gutshof der Grafen von Lehndorff – ein Ort mit einer besonderen, fast unglaublichen Geschichte.
Als Ordonnanzoffizier in der Heeresgruppe Mitte war auch Heinrich von Lehndorff Teil des militärischen Widerstands um Stauffenberg – und ausgerechnet bei ihm quartierte sich Reichsaußenminister Ribbentrop ein. Wenn der Hitler-Vertraute zu Gast in der „Wolfsschanze“ war, wohnte er im linken Flügel des Gutshauses, während Graf Lehndorff sich im rechten mit seinen Verschwörer-Kameraden traf.
Zwar mühten die sich, ihre konspirativen Gespräche draußen am See, bei Kutschfahrten oder irgendwo im Wald zu führen – doch geheim bleiben konnte ihre Verwicklung in die Attentatspläne nicht. Schon einen Tag nach dem gescheiterten Anschlag auf Hitler wurde Lehndorff verhaftet, sechs Wochen später wurde er vom berüchtigten Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und gehängt.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Die „Wolfsschanze“ (polnisch: „Wilczy Szaniec“) liegt in den zur Gemeinde Kętrzyn gehörenden Wäldern. Die Anlage ist ganzjährig geöffnet, in der Regel ab 8 Uhr morgens bis zur Dämmerung. Der Eintritt kostet, je nach Saison, zwischen 20 und 25 Złoty (umgerechnet rund 4,60 bis 5,80 Euro), eine deutschsprachige, etwa zwei Stunden dauernde Führung für bis zu zwölf Personen insgesamt 150 Złoty (knapp 35 Euro).
Anreise: Nach Kętrzyn kommt man mit dem Pkw über Autobahnen und die Staatsstraßen 7, 16 und 51 oder das gut ausgebaute Bahn- und Busnetznetz problemlos. Von Warschau oder Danzig aus organisieren verschiedene Anbieter Tagesausflüge. Auch Boots- und Radurlaubern in den Masuren bietet sich ein Abstecher an.
Unterkunft: In der „Wolfsschanze“ selbst gibt es in einem ehemaligen Wachgebäude ein einfaches Gasthaus mit 55 Betten. In der Umgebung kommen Besucher in Privatunterkünften, Ferienwohnungen und Hotels zu Preisen zwischen 200 und 450 Złoty unter (rund 45 bis gut 100 Euro).
Währung: Ein polnischer Złoty entspricht 0,23 Euro (Stand: 3.07.2024).
Weitere Auskünfte: Genauere Informationen über die „Wolfsschanze“ gibt es auf den Seiten der Touristeninformation Kętrzyn sowie unter wolfsschanze.pl. Allgemeine Informationen über die Region Masuren unter mazury.travel.
© dpa-infocom, dpa:240707-930-166871/1
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