Reise-Reportage
Wo das Herz Sardiniens schlägt: Unterwegs in der Barbagia

17.11.2023 | Stand 17.11.2023, 19:00 Uhr |

Auf dem Gipfel des Monte Novo San Giovanni hält Carlo Menneas vor seiner Versorgungshütte Ausschau nach Waldbränden. Er liebt seinen einsamen Beobachterposten hoch über Sardinien.  − Fotos: Annabella Angerer-Schneider 

Abseits der Küsten Sardiniens, im Landesinneren, gehört die Insel noch den Hirten und Schafen. Die Barbagia, von den alten Römern das Land der Barbaren genannt, hat sich bis heute ihre Ursprünglichkeit bewahrt.

Ich habe in Berührung mit dem Volk und den schönsten und wildesten Landschaften gelebt, in die sich meine Seele versenkt hat und daraus ist meine Kunst entstanden ...“

Aus den Worten der Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda spricht die tiefe Liebe zu ihrer Heimat. Ihre Werke, teilweise vor über 100 Jahren verfasst, erzählen vom alten Sardinien, das auf den ersten Blick so gar nichts gemein hat mit der Urlaubsdestination der Gegenwart. Doch weit abseits vom türkisfarbenen Meer, von den Stränden, wo die Liege in der Hochsaison ein kleines Vermögen kostet, besteht fort, was Deledda in ihren Büchern beschrieb. In der Barbagia, dem verborgenen Kern der Insel, leben Menschen im Einklang mit ihren Wurzeln und herber, ungezähmter Natur.

Rund um die Stadt Nuoro erstrecken sich raue Bergmassive wie der Supramonte. Zerklüftete Kalkfelsen wechseln sich ab mit schattenlosen Ebenen. Steineichen und Wacholder haben sich hier an die trockenen Verhältnisse angepasst. Ebenso wie die wenigen abgeschiedenen Dörfer und die Pinnettas, kuppelförmige, einfache Hütten aus Stein, in denen Hirten Unterschlupf suchen. Tiere laufen frei herum, Zäune sind weit und breit nicht zu sehen. Kühe, Schweine, Pferde, Ziegen kreuzen gemächlich die staubige Straße und lassen sich von Autos nicht aus der Ruhe bringen.

Als „vedetta“ hat Carlo alles im Blick

Hoch über all dem, auf dem Monte Novo San Giovanni, wacht Carlo Menneas. Der 51-Jährige ist ein „vedetta“ und hält als solcher vom Gipfel aus Ausschau nach Waldbränden. Mit dem Fernglas sucht er die Täler vor sich ab. Einmal in alle Himmelrichtungen geblickt, alles ruhig. Menneas lässt sich auf eine Bank vor der Holzhütte fallen und lehnt sich zurück. Schon als Kind habe er seinen Vater zu den Beobachterposten begleitet. Nun verbringt er selbst jeden zweiten Tag in den Sommermonaten hier oben, fernab von der Zivilisation. Ziemlich eintönig, oder? Nein, sagt er, schließlich bekommt er immer wieder Besuch von Wanderern, Mufflons oder Steinadlern. „Bellissimo“ findet Carlo Menneas seine Arbeit. Leise tönen Stimmen aus dem Funkgerät, das in der Hütte hängt. Jetzt im Herbst ist die gefährliche Phase vorüber. Doch in der hitzigen Hochsaison wüteten die Feuer überall auf der Insel, teilweise 24 Stück an einem Tag. Zwei hat Menneas, der beim sardischen Forstbetrieb angestellt ist, selbst gesichtet. Pick-ups hatten sich entzündet. Er alarmierte schnell die Einsatzkräfte, denn die Folgen eines Infernos sind auch im Nirgendwo dramatisch. Immer wieder verlieren Bauern dabei Schafe.

Madenkäse, der auf den Magen schlagen kann

Die zotteligen Herden, die nach rar gesätem Grün suchen, prägen das Bild auf der Insel. Auf Sardinien leben doppelt, wenn nicht dreifach so viele Schafe wie Menschen, heißt es. So genau weiß das niemand. Die Produktion von Milch und Käse ist ein wichtiger Wirtschaftszweig und prägt die lokale Küche. Neben dem über die Grenzen Italiens hinaus bekannten Pecorino, kommen bei den Einheimischen auch ausgefallenere Variationen auf den Tisch.

Als gefährlichster Käse der Welt gilt der Casu Marzu, zu deutsch: verdorbener Käse. Zur Spezialität machen ihn Käsefliegen, die ihre Eier in den Laib legen. Die Larven fressen und verdauen sein Innenleben. Dann wird er verspeist, die noch springenden Maden inklusive. Daher das Prädikat „gesundheitsschädlich“. Denn einmal verschluckt, können sie Magen- und Darmwände anfressen, Schmerzen, Erbrechen und Durchfall verursachen. Deshalb hat die EU Verkauf und Herstellung des Casu Marzu 2005 verboten, was die Sarden jedoch weniger beeindruckt, wenn sie unter sich sind und sich die Delikatesse schmecken lassen.

Pane Carasau – das Knäckebrot der sardischen Hirten

In den Restaurants steht der Käse aber nicht auf der Karte. Dafür eine Auswahl dessen, was der eigene Gemüsegarten oder Stall so hergibt. Im Ristorante „Il Rifugio“ im historischen Viertel von Nuoro sind das Pralinen aus Lammfleisch oder Spieße mit Innereien. Die Sarden kochen alle Teile des Tieres. Nach den Vorspeisen gibt es Pasta, genauer gesagt Culurgiones, sardische Ravioli mit einer Füllung aus Kartoffeln, Minze und Pecorino und das Hauptgericht – geschmortes Lamm. Platz für ein Semifreddo, einer halbgefrorenen Creme mit Orangen und Honig, ist hinterher natürlich auch noch.

Was bei keinem der Gänge fehlen darf: Das Pane Carasau, ein dünnes, knuspriges Brot, das doppelt gebacken wird und somit besonders trocken und haltbar ist. Einst zehrten die Schäfer davon, während sie mit ihren Herden durch die Berge zogen und wochenlang der Heimat fern blieben. Heute steht stets ein Korb mit mehreren Scheiben griffbereit, von denen fast beiläufig immer wieder eine Ecke verschwindet.

Nuoro – das kulturelle Zentrum der Insel

„Il Pane“, so hat der in Nuoro geborene Bildhauer Francesco Ciusa auch eine seiner aus Bronze gegossenen Skulpturen genannt. Die Figur einer Frau, die die Hände in Teig presst, steht im Spazio Ilisso, einem 2019 gegründeten Ausstellungszentrum, das sich vorwiegend sardischen Künstlern widmet. Mitten im Hinterland, in der 35000 Einwohner großen Stadt Nuoro, befindet sich das kulturelle Zentrum der Insel.

Zur Jahrhundertwende galt der Ort als das „sardische Athen“, wegen der vielen Künstler und Schriftsteller, die dort wirkten. Noch immer gibt es viele Museen, die Besucher mit in diese Blütezeit nehmen. Darunter das Geburtshaus von Nobelpreisträgerin Grazia Deledda. In der noch erhaltenen Küche empfing sie Ende des 19. Jahrhunderts Menschen aus dem Umland, an der Feuerstelle schilderten diese der jungen Frau aus wohlhabendem Haus ihr hartes, entbehrungsreiches Leben. Später schrieb Deledda ihre Geschichten nieder und machte damit nicht nur sich selbst, sondern auch Sardinien einen Namen.

Jedes Dorf pflegt seine eigenen Traditionen

Die Verbundenheit, die die Autorin Zeit ihres Lebens zu der Insel hegte, teilt sie mit ihren heutigen Landsleuten. „Sardigna no est Italia“ – Sardinien ist nicht Italien: Ein Satz, der als Graffiti oft an Wänden zu lesen ist und von der starken Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Insel zeugt. Vom Stolz auf die eigene Sprache, auf Bräuche und Traditionen. Jedes Dorf pflegt dabei andere.

Tonara zum Beispiel, rund 60 Kilometer südwestlich von Nuoro gelegen, ist bekannt für Torrone, ein weißes Nougat aus Nüssen, Honig und Eiweiß. Wer kosten will, bekommt die noch warme, süße, zähe Masse heute direkt aus dem Kessel auf Esspapier geschmiert. Man feiert „Autunno in Barbagia“, ein Herbstfest, bei dem über 30 Orte mitmachen und an den Wochenenden Tür und Tor öffnen. Diesmal ist das Bergdorf, das inmitten von Nussbaum- und Kastanienwäldern auf 850 Metern Höhe liegt, an der Reihe.

Schon am Vormittag schieben sich viele Besucher durch die engen Gassen. Manche haben farbenfrohe Kopftücher, Schürzen oder Umhänge angelegt, die typische Tracht ihrer Gemeinde, die die Sarden vor allem bei Feierlichkeiten hervorholen. Frauen reichen den Passanten Gläschen mit Likör. Alle paar Meter sind Stände aufgebaut, es duftet nach gerösteten Esskastanien und frischem Brot. Die Tonaresi haben ihre Läden, aber auch private Wohnhäuser und Werkstätten aufgesperrt.

Handwerk in vierter Generation

Am Ende der Straße ertönt ein Scheppern und Klappern. Einer der zwei letzten seiner Art ist der Betrieb der Familie Floris. Ignazio Floris sitzt auf einem Baumstamm und klopft mit dem Hammer auf Blech. Immer wieder hält er den Klangkörper an sein Ohr und schlägt ihn leicht an. Bald gesellt sich seine Enkelin zu ihm und tut es ihm gleich. In vierter Generation stellen die Floris-Männer goldene Glocken her, die siebenjährige Nora und ihre Cousins „spielen“ noch, sagt ihr Vater Salvatore. Ein Spiel, das sich tief ins Gedächtnis einbrennt. Denn um einen Rohling so zu stimmen, dass er einen klaren, weichen Ton hervorbringt, müssen die Kinder von klein auf ganz genau hinhören. Sich als Erwachsener diese Technik noch anzueignen, sei so gut wie unmöglich, erzählt Salvatore.

25 Arbeitsschritte braucht er, um einem Stück Eisen sein einzigartiges Läuten zu entlocken. Es soll später am Hals von Weidetieren die Stille in der verlassenen Weite der Barbagia durchbrechen. Keine Glocke kling wie die andere, jeder Hirte erkennt die Melodie seiner Tiere im Schlaf. Nur so kann er sie ausfindig machen, wenn sie sich verstiegen haben, und auseinanderhalten, falls zwei Herden aufeinandertreffen.

Immer wieder wird Salvatore unterbrochen und von Bekannten begrüßt. Werte wie Gemeinschaft und Familie sind den Sarden heilig. Nicht umsonst gehört die Barbagia zu den weltweit fünf sogenannten blauen Zonen, in denen Menschen länger und gesünder als der Durchschnitt leben. Auch feste soziale Verbindungen sollen daran ihren Anteil haben. Doch wie stark diese Bande auch sein mögen: Wer sich der Herkunft verschreibt oder sogar den Eltern nachfolgt, muss das aus freien Stücken tun, findet Salvatore. Er hat drei Töchter. Ob eine von ihnen das Wissen und Erbe weiterträgt, bleibe ihnen überlassen. „Es ist wichtig, diesen Weg zu wählen und nicht dazu gedrängt zu werden.“ Der 41-Jährige selbst wollte sich von diesen Zwängen befreien und lebte einige Zeit am Festland. Bis es ihn dann doch am Ende zurückzog, ins Herz Sardiniens.


INFORMATIONEN

Die felsige Hochebene Barbagia im Osten Sardiniens lässt sich auf zahlreichen Wegen erwandern und ist Teil des Nationalparks Gennargentu. Auch für Kulturinteressierte ist dieser Teil der Insel einen Abstecher wert: Die Stadt Nuoro ist das Kulturzentrum der Insel.

ANREISEN

Flug nach Olbia und dann etwa eine Stunde Fahrt bis nach Nuoro. Wer mit dem Auto oder Wohnmobil anreist, nimmt die Fähre. Etwa die Moby Fantasy, dem jüngsten Neubau der italienischen Reederei Moby Lines. Seit Juni verkehrt das Schiff zwischen Festland (Livorno) und Insel (Olbia) und kann bis zu 3000 Personen und 1300 Autos befördern. In Kabinen, Schlafsesseln, Bars und Restaurants können sich Passagiere auf der neunstündigen Überfahrt die Zeit vertreiben. Infos: www.mobylines.de.

ÜBERNACHTEN
In Nuoro gibt es verschiedene Hotels und Bed and Breakfasts, ebenso zahlreiche Campingplätze im Umland, wie etwa www.supramonte.it.

www.sardegnaturismo.it

www.museoman.it

www.cuoredellasardegna.it


Redakteurin Annabella Angerer-Schneider recherchierte mit Unterstützung der Reederei Moby Lines und der Handelskammer der sardischen Provinz Nuoro auf der italienischen Insel.

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