Unterwegs im Gitschberg-Jochtal: Wo sich Tourismus mit der Natur verträgt

26.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:33 Uhr

Goldener Herbst, sattgrünes Altfasstal: Die Region Gitschberg-Jochtal beeindruckt mit Naturerlebnissen fernab des Massentourismus. −Fotos: Alexander Augustin

Von Alexander Augustin

Panoramen wie in einer ZDF-Vorabendserie, nachhaltige Konzepte und die Fusion von Tradition und Moderne. Die südtiroler Region Gitschberg-Jochtal präsentiert sich als Vorreiter des zukunftsorientierten Naturtourismus.

Botschafter ihrer Arbeit werden sie wohl nicht mehr. Die sechs wichtigsten Helfer auf dem Santerhof von Willi Gasser (55) machen sich fluchtartig aus dem Staub. Sie schuften fleißig, gründlich – und tun das sogar gerne. Aber wehe, wenn man sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zu interessiert beobachtet. Mögen sie gar nicht. Arbeitsethos: Tue Gutes und mähe nicht darüber. Gasser blickt seine Schafe an, grinst schelmisch: „Meine besten Mitarbeiter.“

Gasser, der Biobauer-Pionier Südtirols, hat mal wieder um die Ecke gedacht, als er seine wolligen Freunde in den angrenzenden Weinberg stellte. Die Tiere wohnen seit einigen Jahren auf seinem Hof in Mühlbach, der vor 30 Jahren der erste von heute 1000 Bio-Betrieben in Südtirol war. Die Schafe waren einst ein Wunsch seines Sohnes Johannes. Weil Willi Gasser aber schon immer gerne das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden hat, erdachte er vor einigen Monaten Folgendes: Könnten ihm die Schafe nicht bei der Bewirtschaftung seiner 2,5 Hektar großen Weinanbaufläche behilflich sein? Fleißige Arbeiter am Weinberg ihres Herrn?

Nachhaltig, entschleunigt und naturverbunden

Also zäunte Gasser einen Teil des Geländes ein und platzierte die Tiere darin. „Solange die Trauben nicht reif sind, gehen die Schafe nicht dran, sie fressen nur das Grün“, erzählt er. Die Reben waren entblättert, die Früchte unberührt. Experiment geglückt, viel Arbeit gespart, nächstes Jahr wird er sie wohl den kompletten Berg bearbeiten lassen. Willi Gasser und sein Hof am Mühlbacher Stausee sind eine Blaupause dafür, wie sich die Region Gitschberg-Jochtal als Tourismusdestination präsentieren will: Nachhaltig, naturverbunden, entschleunigt und dank der Kreativität und Leidenschaft ihrer Einwohner zukunftsfähig.

Westlich der Brennerautobahn auf halber Strecke zwischen der österreichisch-italienischen Grenze und Bozen gelegen ist die Region das grüne Tor zu den Dolomiten mit ihren schroffen Gipfeln. Im Winter gibt es hier 55 Pistenkilometer mit 15 Liften. In den Zeiten ohne Schnee – die immer länger werden – tauchen die Wälder und Wiesen die Täler in sanftes Grün.

Simon Fischnallers (37) bester Mitarbeiter hat, das unterscheidet ihn von Bio-Landwirt Willi Gasser, nur zwei Beine. Funktionell gesehen derzeit sogar nur eines. Elias Seeber (22) läuft auf Krücken über die Terrasse der Wieserhütte im Altfasstal auf 1800 Metern, ein traumhaft schöner Ort. Strahlender Sonnenschein taucht den Bergkessel in sattes Spätherbstgrün, in der Ferne sind die Glocken der Ziegen und Kühe zu hören. Das einzige Läuten. Handyempfang gibt es nicht.

Beim Fußballspielen im Tal hat sich Seeber am Sprunggelenk verletzt. Für ihn ein ernsthaftes Ärgernis. Die Sommermonate über bleibt er normal, nur von sporadischen Besuchen im Tal unterbrochen, hier oben auf der Wieserhütte. Er schläft, arbeitet, lebt hier, in dieser eigenen Welt, die das Altfasstal ist.

Simon Fischnaller ist dabei mehr als sein Chef. Er ist Vorbild, auch ein bisschen großer Bruder. Der Wirt selbst hat die Wieserhütte mit 19 übernommen, mit 21 begann er, selbst Käse herzustellen. Inzwischen produziert er mit der Hilfe von Elias Seeber zwischen 1500 und 2000 Kilogramm im Jahr. Nur eine kleine Maschine hilft ihm dabei. Die Milch frisch aus dem Euter der Kuh verarbeiten, den Käse während des Reifens täglich waschen, wenden und ihn nach Monaten dünn aufgeschnitten an den Tisch der Gäste zu bringen, dabei will sich Fischnaller von keiner Technik helfen lassen.

So bedeutet jedes Kilogramm Käse mehr auch mehr Arbeit. „Die Arbeitstage im Sommer dauern von 6 bis 20 Uhr“, sagt Fischnaller. Den Mangel an guten Arbeitskräften trägt er jeden Frühling mit hinauf bis auf 1800 Meter. „Wir wollen auch weiterhin Käse machen, es ist ein tolles Produkt, aber großes Geld verdienst du damit nicht“, sagt er. „Und es ist eben harte Arbeit, die die Leute heute nicht mehr machen wollen.“

Elias Seeber stimmt ihm da nickend zu, auch wenn er selbst zur Generation gehört, der man nachsagt, keine körperliche Arbeit mehr leisten zu wollen. „Ich bin auf einem kleinen Hof aufgewachsen und habe viel Spaß daran“, sagt er. Seine Freunde sind hinaus gezogen zum Arbeiten und Studieren, er hat sich bewusst für den entgegengesetzten Weg entschieden, auch wenn er sich dafür immer wieder rechtfertigen müsse. „Für mich gibt’s nichts Schöneres.“ Gerade das Arbeiten ohne modernste Technik reizt ihn. In Südtirol, wo Landwirte nur so viele Tiere haben dürfen, wie sie auf ihrem eigenen Land auch versorgen können, ist Seeber genau richtig. Ein Betrieb in der Region hat im Schnitt nur 15 Kühe. Qualität statt Masse, von oben verordnet.

Das Naturell einer ganzen Region

Seeber spricht mit einer Entspanntheit über seine Arbeit und das Leben, man könnte ihn darum fast beneiden. Nicht auszuschließen, dass er damit aber das Naturell einer ganzen Region verkörpert. Fest verwurzelt und trotz aller Ungewissheiten ohne Angst vor der Zukunft.

Man scheint in selbige förmlich blicken zu können, wenn man auf dem Kleinen Gitsch auf knapp 2300 Metern über dem Meer steht. Links erstreckt sich der Blick über den Kronplatz bis hin zu den Drei Zinnen, rechts leuchten die Gletscher der Ötztaler Alpen und hinter einem sind die Zillertaler Alpen beinahe greifbar.

Es ist dieser schmale Grat, auf dem jede Tourismusregion wandelt. Auf der einen Seite sind da die Ansprüche der Gäste, die immer höher, spezieller werden. Auf der anderen stehen die Interessen der Menschen, der Natur, der Tierwelt vor Ort. In der Praxis ist das Konzept vom sanften Tourismus oft die Quadratur des Kreises.

In Südtirol scheint sie zu gelingen, nicht nur, aber auch in der Region Gitschberg-Jochtal. Dort, wo man seit Jahrzehnten um die eigene Identität ringt. Eine Region, die italienisch funktioniert, aber Deutsch denkt und seit dem Ende des 2. Weltkriegs auch wieder spricht. Ein ständiger Spagat zwischen Autonomie und äußerer Einflussnahme.

Kulinarisch verbindet man die norditalienische mit der Tiroler Küche, was Kreationen wie die Schlutzkrapfen hervorbringt, die, gefüllt mit Ricotta und Spinat, aussehen wie Ravioli, aber dank des verwendeten Roggenmehls kernig tirolerisch schmecken. Im italienischen Sprachraum werden sie nicht ohne Grund „ravioli tirolesi“ genannt.

So traditionsreich und in sich gefestigt die Küche ist, so frisch sind die touristischen Konzepte. Erst vor einigen Jahren hat die Region Gitschberg-Jochtal die Wichtigkeit von Radwegen erkannt und baut diese nun kontinuierlich, aber mit Maß und Ziel aus. Das wohl wegweisendste Projekt ist auch das umstrittenste: Derzeit ist eine Gondelbahn in Planung, die den Bahnhof in Mühlbach direkt mit dem Skigebiet Gitschberg-Jochtal verbinden soll. Touristen sollen so bei ihrer Anreise und vor Ort ganz aufs Auto verzichten können. Was die Idee der Nachhaltigkeit mitdenkt, ist aber zunächst einmal ein Eingriff in die Natur. So wird der Bau, der bereits 2023 beginnen und rund ein Jahr dauern soll, wohl ebenso wenig kritiklos ablaufen wie die vorangegangene jahrelange Planung der Trasse.

Willi Gasser auf seinem Santerhof können die Diskussionen weitgehend egal sein. Er hat ganz andere Sorgen. Über Jahrzehnte haben ihm Äpfel den größten Ertrag gebracht, auch finanziell. Diese Zeiten seien vorbei, sagt er: „Äpfel sind ein Auslaufmodell.“ Nicht weil die Nachfrage nicht mehr da sei, nein. Der Klimawandel macht im Kleinen wie im Großen auch dem Santerhof zu schaffen. „Wir beobachten eine Veränderung des Mikroklimas hier im Tal“, sagt Gasser. Eigentlich habe hier in Mühlbach immer Durchzug geherrscht, so habe auch eine Kälteperiode im Frühjahr den Äpfeln nichts anhaben können. „Seit ein paar Jahren steht die Luft viel mehr. Der Vegetation beginnt immer früher – und dann kommt im März noch einmal der Frost. Heuer war die Ernte dadurch sehr spärlich“, erzählt Gasser. Von der sicheren Einnahmequelle zum Draufzahlgeschäft – der Bio-Landwirt wird sich von den meisten Apfelbäumen auf seinem Hof verabschieden, nur noch für regionale Wochenmärkte anbauen. Auch weil die EU-Vorschriften für Äpfel im Großhandel kaum mehr einzuhalten seien.

Willi Gasser klagt über diese erzwungene Änderung nicht. Jetzt konzentriert er sich auf den Wein, hat sich dazu einen Keller eingerichtet. Von der Traube bis in die Flasche muss das Produkt den Santerhof nicht verlassen. Ob der Bio-Wein für Gasser je so ertragreich sein wird wie einst die Äpfel?

Weiß er nicht, aber auch das gehört zu seiner Philosophie. „Ich habe mich vor 30 Jahre entschieden, dass ich eine Landwirtschaft in ständiger Veränderung betreiben will“, sagt Gasser. „Meistens probiere ich etwas drei, bis vier Jahre aus und entscheide dann, ob ich es fortführe.“ Seine Schafe zumindest haben schon im ersten Jahr gute Argumente für eine Festanstellung gesammelt.


Redakteur Alexander Augustin reiste auf Einladung der Tourismusregion Gitschberg-Jochtal nach Südtirol.




INFORMATION

Die Region Gitschberg-Jochtal verbindet acht Ferienorte in Südtirol. Das Gebiet bietet ganzjährig Naturgenuss – ob zu Fuß, auf Skiern oder mit dem Rad.

ANREISE

Über den Brenner geht’s nach Südtirol. Von der Mautstelle Brixen-Pustertal sind es wenige Kilometer nach Mühlbach. Besonders empfehlenswert ist auch die Anreise per Zug von München (Eurocity in Richtung Bologna/Venedig).

ÜBERNACHTEN
Der Tratterhof in Meransen auf rund 1500 Metern Höhe ist das höchste und auch eines der exklusivsten Wellnesshotels der Region. Besonders ist auch das Hotel Silena in Vals, das japanisches und alpines Flair verbindet.

www.gitschberg-jochtal.com