Volk der Sonne und des Windes
Mit Rentieren durch die weiße Wildnis Schwedens – Unterwegs im Land der Sámi

20.12.2024 | Stand 30.12.2024, 15:27 Uhr |

„Lagom“ – die schwedische Glücksformel: Das Wort beschreibt ein schwedisches Lebensgefühl im Gleichgewicht, wenn alles „genau richtig ist“ – wie beim Eisfischen auf dem See Burusjön.

Ob Navajos, Apachen, oder Sioux – in den USA gibt es über 560 Stämme der Ureinwohner, in Kanada sogar über 600. In der EU dagegen nur einen einzigen: die Sámi. Das „Volk der Sonne und des Windes“ lebt im skandinavischen Norden. Eine Spurensuche zwischen Rentieren, Runen und rennenden Schlittenhunden durch die weiße Wildnis Schwedens.

  

Tausendfach bricht das Licht durch den funkelnden Raureif an den Bäumen. Der Schnee knirscht unter den Füßen bei jedem Schritt. Ansonsten ist es still. Bis ein kehliger Gesang die Stille durchdringt: „Hai! Hai! Konoo, ojah! Koi.“ Es ist die Stimme von Peter Andersson. Und schon fliegen fünf pelzige Rentiere durch die weiße Winterlandschaft. Mit ihren breit aufgefächerten Hufen versinken sie kaum in der tiefen Schneedecke und scheinen damit wirklich zu schweben. Sie haben zwischen den Bäumen gewartet, während Peter mit einer Gruppe Wanderer am Lagerfeuer saß und über die Kultur der Sámi (deutsch: „Sumpfleute“) sprach.

Weitere Fotos aus Schweden sehen Sie hier: “Lagom”– Schwedisches Lebensgefühl zwischen Rentieren und Schlittenhunden

Die Sámi gelten als die Ureinwohner des skandinavischen Nordens – ihre Vorfahren leben hier schon seit über 10.000 Jahren. Ursprünglich zogen sie als Nomaden mit ihren Rentieren umher. Peter selbst ist Teil dieses indigenen Volkes, deren Gebiet sich heute von Teilen der Provinz Dalarna in Schweden – wo der 60-Jährige mit seiner Familie lebt – über den Norden nach Norwegen und Finnland, im Osten bis nach Russland erstreckt. Sie sind das einzige offiziell anerkannte indigene Volk in der EU. Mit eigener Sprache, eigener Kultur und eigener Musik – wie das Joiken, der traditionelle samische Gesang. Es klingt ähnlich wie Jodeln. Laut dem schwedischen Tourismusverband leben etwa 20.000 bis 40.000 Sámi in Schweden – nur rund 5000 davon besitzen noch Rentiere.

Jodel des Nordens: Der Joik



Die Familie Andersson ist eine von vier Familien, die in der Samengemeinschaften Idre Sameby traditionell und das ganze Jahr über mit Rentieren arbeitet und insgesamt eine Herde von tausenden Tieren bewirtschaftet. Gemeinsam mit seiner schwedischen Frau Helena hat Peter auch 12 zahme Rentiere, mit denen sie in Grövelsjön, direkt an der Grenze zu Norwegen, Schneeschuh-Wanderungen anbieten. Eines der zahmen Rentiere haben sie selbst mit der Flasche aufgezogen: Luawis. Gemeinsam mit drei weiteren Kälbern hatten sie sie verwaist im Wald gefunden. Die Mutter war von einem Wolf gerissen worden. „Jedes Jahr verlieren wir Sámi etwa 1000 Rentiere“, schätzt Peter. Sie werden gefressen, verletzen sich oder laufen davon. Auch heute findet er Spuren im Schnee. „Ein Vielfras. Das ist schlecht. Er ist zwar klein, aber beißt die Rentiere ins Genick“, sagt Peter.

Auch wenn er zu seinen Tieren eine tiefe Verbindung spürt, wie er sagt, sind sie für die Sámi Nutztiere. Dabei wird vom Tier so viel wie möglich verwertet. Das Fleisch wird traditionell gesalzen, geräuchert und als „Suovvas“ serviert. Aus dem Fell fertigen sie Kleidung und Schuhe, aus den Hufen wird Schmuck gebastelt. Sogar der Kopf kommt in den Kochtopf. Nur die Augen essen sie nicht. „Das bringt Unglück“. Laut Aberglauben werden sonst die kleinen Rentiere blind.

Die Tradition aufrecht zu erhalten ist nicht einfach. Immer wieder gibt es Konflikte. Früher wurden die Sámi unterdrückt, ihre Sprache verboten und ihre Kinder in Schulen weit weg geschickt. Auch Peter musste seine Familie mit nur sieben Jahren verlassen. Heute bedrohen Minen, Trassen und Bohrungen die Weideflächen. „Sie alle verstehen nicht, dass wir dieses Land nur von unseren Enkelkindern geliehen haben“, sagt Peter und macht deutlich, wie tief der samische Glaube in dem 60-Jährigen verwurzelt ist.

In der ursprünglichen Samischen Religion gibt es drei Welten: die der Götter, der Menschen und der Geister. Die Übergänge darin sind für die Sámi fließend – besonders in der Natur. „Wenn ich mit meinen Tieren im Wald unterwegs bin, bin ich so niemals allein“, sagt Peter, zupft dabei eine hängende Flechte vom Ast und schiebt sie sich in den Mund. „Joejem“, heißt diese Pflanze in Sámi – sie schmeckt wie Heu und ist eines der Hauptnahrungsmittel der Rentiere, aber auch Peter brüht daraus gelegentlich Tee.

Älvdalische Runen: Spuren der Wikinger



Nicht ganz so alt wie die der Sami, aber ebenso „urig“ ist die Kultur in Älvdalen, eine Gemeinde tief im Wald in Mittelschweden. Nur rund 2000 Menschen leben dort – und trotzdem haben sie eine eigene Sprache: Älvdalisch (historisch: „elfdalska“). Sie unterscheidet sich so sehr vom Schwedischen, dass sie nicht bloß als Dialekt abgetan wird. Forscher bezeichnen sie auch als das „Ur-Wikingisch“ – denn Runen sind Teil der Schrift. Einer, der diese Sprache noch spricht, ist Micke Nyberg. Der 36-Jährige ist Fischer und bietet in Seen und Flüssen Dalarnas Erlebnisse an wie Fliegen- oder Eisfischen. Mit dem Pick-up fährt er dazu heute an den Burusjön – ein großer See in der Nähe von Idre. Der perfekte Ort, um einen Seesaibling zu fangen, verrät Micke. Voll bepackt geht es in hohen Gummistiefeln auf den zugefrorenen See. Bei minus zehn Grad ist es so kalt, dass der Schnee bei jedem Schritt wie Pulver zerstäubt. Mitten auf dem See bleibt Micke stehen und packt einen Bohrer aus. Flink zaubert er damit Löcher ins Eis. Nun heißt es Angel auswerfen und warten. Sein Blick wandert über den See. Bis auf die eigenen Spuren ist die weite weiße Schneedecke unberührt. Es gibt nichts zu tun, außer ab und an an der Leine ziehen, damit sich der Köder bewegt und mit den Zehen wackeln, damit diese nicht einfrieren. Einatmen. Ausatmen. Wackeln. „Ein bisschen wie Meditation“, meint Micke. Nach zwei Stunden meldet sich der Magen, der Haken – noch immer leer. Darum packt Micke die Angelruten ein und läuft zurück ans Seeufer. Dort entzündet er ein Lagerfeuer, stellt zwei Eisenpfannen aufs Holz und kocht „Kolbullar“ – ein traditionelles Essen der Holzarbeiter in diesen Wäldern. Es schmeckt wie Pfannkuchen. Dazu gibt es Speck, Moltebeerenmarmelade und Blaubeersaft aus Holztassen mit einer eingeschnitzten „X“-Rune. „Das ist das Zeichen meiner Familie“, erklärt Micke, „wenn ich etwas hier im Wald verliere, wissen die Menschen, es gehört mir.“

Im Hundeschlitten durch die weiße Wildnis



Allerdings ist Schweden nicht nur ein Zuhause für alte Stämme und Familien – die weiße Wildnis zieht auch Winterliebhaber aus anderen Ländern an. Wie Laura Tijsen und Bas van Beek. Das Paar ist von den Niederlanden nach Schweden ausgewandert und hat hier 2023 eine Firma übernommen, die Fahrten mit Schlittenhunden anbietet. „Alles begann mit meinem Husky Rohwi. Mit ihm habe ich mich in die Rasse verliebt – heute lebe ich hier meinen Traum und bin jeden Tag mit unseren Hunden in der Natur“, erzählt Laura, während sie nach der Reihe jeweils vier Hunde vor einen Schlitten spannt. Die können es gar nicht erwarten endlich loszustarten und unterstützen die Vorbereitungen mit lautem Geheule. Bas erklärt den Kunden währenddessen, wie man den Schlitten lenkt, denn den dürfen sie hier selbst bedienen. Das wichtigste Kommando: „Framåt!“ für „Vorwärts!“. Und schon schießen die Hunde los. Sie kennen den vorgespurten Weg durch den Wald bereits in- und auswendig. Und während die weiße Wildnis an einem vorbeifliegt bleibt ein Gefühl: Freiheit.

WEITERE INFORMATIONEN



Die Region Dalarna liegt in Mittelschweden und wird oft als „Schweden im Miniaturformat“ bezeichnet, weil vieles „typisch schwedische“ von hier kommt: Etwa die rostroten Schwedenhäuschen, die Feste zum Mittsommer, oder das rote, bemalte Dala-Pferd („Dalahäst“) aus Holz.

ANREISEN

Mit dem Flugzeug ist man von München aus in gut zwei Stunden in Stockholm, dann weiter mit dem Mietwagen. Es gibt aber auch gute Anbindungen mit dem Zug nach Falun, Mora und Idre.

ÜBERNACHTEN

- Mora Hotell am See Siljan
- B&B Turistgården in Särna im Nordwesten von Dalarna
- Pernilla Wiberg Hotel direkt an der Piste im Skigebiet Idre Fjäll

AUSFLUGSTIPPS

- Touren mit Schlittenhunden, auf dem Schneemobil oder Wintersport im Skigebiet Idre Fjäll, z.B. über Idre Wildtrack mit privatem Outdoor-Spa inkl. Sauna und beheiztem Badefass mitten Wald.
- Schneeschuhwandern mit zahmen Rentieren über den Familienbetrieb Renbiten.
- Eisfischen über Anglerman fishing adventures.
- Zorn Museum in Mora mit einer Führung durch Zorngården – das ehemalige Wohnhaus des berühmten Malers Anders Zorn.
- Schlittschuhlaufen auf dem See Siljan in Mora.

www.visitdalarna.se/en

www.visitsweden.de


Redakteurin Anja Kurz recherchierte auf Einladung von Visit Sweden.

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