Wasser, Wiesen, Wälder – und Wikinger. Auf dem Radrundweg Stettiner Haff entdeckt man zwischen Oder und Ostsee unberührte Natur und eine abwechslungsreiche Kulturlandschaft. Geprägt wurde sie auch von den Kriegern aus dem hohen Norden, die vor 1000 Jahren im heutigen Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen siedelten.
Immer dem orangen Schild mit der Drei nach. Der Weg – meist gekiest, manchmal asphaltiert, ganz selten gepflastert und noch seltener mit einem kleinen Anstieg verbunden – führt entspannt Richtung Norden. Zumindest, wenn man das 130 Kilometer lange polnische Teilstück des Radrundwegs von Stettin bis zur Ostsee und der deutschen Grenze auf Usedom fährt. Dabei gibt es ein Naturgesetz: Das Wasser liegt stets links, die Landschaft rechts.
Marita Weber (69) und ihre Fahrradfreunde biegen nach links ab. Zu verlockend für eine Pause ist das sandige Uferstück hier am Dabie-See, kurz bevor sich die Oder in die riesige Wasserfläche des Stettiner Haffs ergießt. Die drahtige kleine Frau aus dem brandenburgischen Strausberg ist regelmäßig auf Polens Radwegen mit Gleichgesinnten unterwegs. „Wir sind eine Gruppe, die seit 30 Jahren die deutsch-polnische Freundschaft pflegt, und unternehmen jedes Jahr eine mehrtägige Radtour“, erzählt Marita Weber. Diesmal sind die Freunde in Stettin vom Oder-Neiße-Radweg auf die Haff-Route abgebogen.
Am Ufer versteckt sich der Schilfrohrsänger
Über die abgemähte Wiese rechts vom Weg stakst ein Storch. Ein Fuchs huscht an den Heuballen vorbei ins Gebüsch. Links thronen Möwen auf einem toten Baum über dem Wasser. Und was keckert da im grünen Uferbewuchs? Ein Schilfrohrsänger. Das verrät die Vogelstimmen-App auf dem Handy. Sie lohnt sich in diesem Vogelparadies genauso wie die deutschsprachige App, die die Radler durch den Haff-Rundweg führt und Übernachtungsmöglichkeiten oder Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke auflistet.
Zum Beispiel das Dorf der Slawen und Wikinger beim Städtchen Wolin. Der Ort war gegen Ende des achten Jahrhunderts der Schauplatz einer großen Schlacht. Auf der einen Seite kämpften die über die Ostsee gekommenen Wikinger, auf der anderen die hier siedelnden Slawen. Letztere verloren und fortan gab es in Wolin ein Miteinander beider Völker. Daran erinnert heute ein Verein von begeisterten Mittelalter-Enthusiasten, die vor den Toren der kleinen Stadt in den vergangenen 20 Jahren ein beeindruckendes Freilichtmuseum mit angegliederten Ferienhäusern errichtet haben.
Viel Herzblut steckt in den Rekonstruktionen der Wikinger- und Slawenhäuser des Museumsdorfs – und viel Sachverstand. Archäologen aus Stettin, Breslau, Posen und Warschau begleiten das Projekt und achten auf jedes Detail, erzählt Arek. Der 48-Jährige liebt das Mittelalter nicht nur, er lebt es auch. Konsequent. Er wohnt, kleidet und ernährt sich wie ein Wikinger vor 1000 Jahren. Die Holzhütte mit dem offenen Feuer ist seit 20 Jahren sein ganzjähriges Zuhause. Dort bittet er auf Anmeldung auch Museumsgäste an seinen Esstisch. Stilecht serviert er bei Kerzenlicht nur Nahrungsmittel, die es im Mittelalter gab. „Natürlich keine Kartoffeln oder Tomaten, die gab es erst später“, sagt der blonde Mann im weinroten Leinenhemd und grinst. Dann tischt er auf: Grütze, Rote Bete, Frischkäse, Brot, Grillfleisch, geräucherte Brachse, Kräutersalate und und und. Die Bratäpfel zur Nachspeise dekoriert er liebevoll mit Himbeersoße und Pfefferminzblättern.
Dreimal täglich tobt die große Schlacht
Nebenbei erzählt Arek mit leuchtenden Augen vom jährlichen Mittelaltertreffen: „3000 Leute schlafen am ersten Augustwochenende hier in den Häusern und in Zelten. Alle sind authentisch gekleidet und ausgerüstet. Das wird vorher genau kontrolliert.“ Auch die damalige Schlacht lebt wieder auf. Im ganz großen Stil. „400 Wikinger kämpfen gegen 400 Slawen. Drei Tage hintereinander, dreimal täglich. Natürlich bin ich jedesmal dabei“, sagt der Wikinger aus Leidenschaft.
Eher dem Kampf mit den Elementen verschrieben hat sich ein anderer Bewohner, der 76-jährige Jerry. Der ehemalige Seemann ist mit zwölf Gleichgesinnten jahrelang immer wieder kreuz und quer zwischen Dänemark, Schweden, Polen und Deutschland durch die Ostsee gesegelt – im Nachbau eines slawischen Bootes aus dem 12. Jahrhundert, das hier in der Nähe gefunden wurde. Bei Brückenarbeiten in Wolin kam auch ein Stück Hightech des Mittelalters zum Vorschein. Jerry zeigt einen Nachbau der runden Holzscheibe vor: „Das ist ein Sonnenkompass, damit konnten die Seefahrer damals navigieren.“
Ob sie damit einst auch den Strand von Miedzyzdroje ansteuerten? Damals dürfte es dort deutlich ruhiger gewesen sein als im heutigen turbulenten Ostseebad, von dem aus die Radler mit der Fähre nach Usedom übersetzen. Dort wartet dann die Fortsetzung des Rundwegs auf der deutschen Seite des Stettiner Haffs.
INFORMATIONEN
Das Stettiner Haff erstreckt sich in Deutschland und Polen über eine Wasserfläche von 700 Quadratkilometern und ist durch Land von der Ostseeküste weitgehend abgeriegelt. Der Radweg führt auf 295 Kilometern durch beide Länder. Als Ausgangspunkt der Tour bietet sich Stettin an, die prosperierende Großstadt im Süden.
ANREISEN
Von Berlin aus erreicht man Stettin mit dem Zug in knapp drei Stunden und mit dem Auto über die A11 in knapp zwei Stunden.
ÜBERNACHTEN
Zwischen Westoder und Zentrum gelegen ist das Hotel Ibis Styles in Stettin. Wikinger-Flair und die Technik des 21. Jahrhunderts verbinden die Gästeunterkünfte neben dem Freilichtmuseum Wolin.
www.polen.travel.de
www.rowery.wzp.pl
Redakteurin Helene Baumgartl war mit Unterstützung von polen.travel unterwegs.
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