Reise-Reportage
Gravelbiken in Dalsland: Seen und nicht gesehen werden

09.08.2024 | Stand 09.08.2024, 19:00 Uhr |

Seen, Schotter, Abgeschiedenheit: Wer durch Dalsland reist, schnappt sich am besten ein Gravelbike. Erik Josefsson (l.) und Henrik Linneros waren maßgeblich an der Konzeption der insgesamt elf Routen durch die Region beteiligt. − Fotos: Daniel Breece

Hunderte Kilometer Schotterstraßen, Wald, unzählige Gewässer und stundenlang kein Mensch weit und breit: Wer auf dem Gravelbike durch die westschwedische Region Dalsland radelt, erlebt ein rasantes Abenteuer – und zugleich absolute Entschleunigung.

Das muss also dieser legendäre Sommer in Schweden sein. Uns steht das Wasser bis zu den Knöcheln. In Dalsland, der Region der Seen, ist das nichts Ungewöhnliches. Doch dies ist ein unfreiwilliges Fußbad. Überraschend warm, aber eben vor allem: nass. Dazu unerbittlicher Regen. Doch es hilft nichts. Die Pfützen sind tief, aber der Weg hindurch ist der einzige zum Ziel.

Wer in der mittelschwedischen Provinz Urlaub macht, sollte auf diese Abenteuer gefasst sein – zumal, wenn er auf zwei Rädern unterwegs ist. Der Lohn ist ein Naturerlebnis, wie es authentischer kaum sein könnte. Zwischen sattgrünen Wiesen und funkelnden Seen, einer nach dem anderen, 2000 insgesamt. Dazu: absolute Stille. In der Region leben elf Einwohner pro Quadratkilometer. „Du kannst an viele schöne Orte fahren auf dieser Welt“, sagt Henrik Linneros, „aber da sind immer andere Menschen. Hier kannst du einen ganzen See für dich allein haben.“

Gewollte Einsamkeit auf zwei Rädern – in der Region machen sie das gerade zum touristischen Alleinstellungsmerkmal. Dass das Gravelbike, ein Rennrad fürs Gelände, gerade nicht nur hierzulande einen Hype erfährt, ist für Linneros und seine Kollegen von Visit Sweden ein Glücksfall. Denn Gravel, also Schotter, gibt’s in Dalsland genug.

„Die Schotterpisten sind unser Unique Selling Point“, sagt Linneros, ein drahtiger Typ, der selbst jährlich tausende Kilometer auf dem Rad unterwegs ist. Touristisches Verkaufsargument und systemrelevante Verkehrsadern zugleich sind die Pisten. Weil zwar sehr selten, aber doch immer wieder mal ein Auto fährt, werden die Schotterstraßen laufend in Schuss gehalten. Auch der Radfahrer profitiert davon.

„Wir beobachten gerade, dass immer mehr Touristen mit dem Rad anreisen“, sagt Erik Josefsson, der Gravelbike-Touren durch seine Heimat anbietet. „Und es ist auch das beste Fortbewegungsmittel hier. Du kannst die Schönheit der Natur viel bewusster genießen.“ Gerade hat die Region elf offizielle Gravelbike-Routen ausgewiesen, insgesamt über 500 Kilometer lang. Josefsson war maßgeblich daran beteiligt.

Abgeschieden, aber nicht abgehängt

Der Vorteil am Gravelbike: Man kommt ganz schön weit an einem Tag, auch wenn die hügelige Landschaft Westschwedens nicht zu unterschätzen ist. 1000 Höhenmeter kommen so auf einer Tagestour schnell zusammen – verteilt auf viele kurze, knackige Anstiege. Auf längeren geraden Stücken hat die Reise auf zwei Rädern – links ein See, rechts Wald, über einem der blaue Himmel – einen Hauch von Meditation. Ziemlich anstrengende Meditation, das gehört zur Wahrheit. Vorbei an einsamen roten Schwedenhäusern, die selbst für einen Astrid-Lindgren-Roman zu klischeehaft gewesen wären, huschen Gedanken vorbei wie die Bäume am Wegesrand. Wie muss das Leben hier für Jugendliche sein, scheinbar fernab jeglicher Zivilisation? Wie funktioniert das Müllabfuhrsystem? Die Post?

Dass Abgeschiedenheit nicht bedeuten muss, abgehängt zu sein, zeigen Stationen am Wegesrand. In einer alten Papierfabrik im Ort Fengersfors ist mit dem „Not Quite“ ein Kulturzentrum entstanden – ein Forum für Konzerte, Ausstellungen und Workshops. Und, nach einem Vormittag auf dem Gravelbike nicht ganz unwichtig, ein Café mit selbst gemachtem Brot aus dem Steinofen und, klar, Zimtschnecken.

Überhaupt Essen. Kulinarisch hat die Region einiges zu bieten. Viele Restaurants in Dalsland setzen auf Zutaten, die vor der Haustür wachsen oder herumlaufen. Kräuter, Pilze, Beeren, Elchfleisch. So sind die Gerichte, die auf den Tisch kommen, nicht selten nordisch minimalistisch, dafür umso intensiver im Geschmack. Ein Paradebeispiel dafür ist die „Ragnerud Kitchen“. Hier kocht mit Linus Bergström ein Shootingstar der regionalen Küche. Am Vormittag streift er durch den Wald rund um den großen Campingplatz, am Abend tischt er seinen Gästen die Zutaten aus der Natur auf.

Einfach losradeln dank „Jedermannsrecht“

Die Verbundenheit zur Wildnis ist in Schweden nicht nur Teil der Kultur, sondern auch des Gesetzes – auch das macht das Land für Radreisen so attraktiv. Wie oft in Skandinavien gilt hier das sogenannte „Jedermannsrecht“ (schwedisch: „allemannsretten“), seit 1994 ist es sogar im Grundgesetz verankert. Heißt in Kurzform: In der freien Natur ist grundsätzlich erst einmal alles erlaubt, auch Wildcampen. So kann jeder ein Zelt einpacken, losradeln, ohne sich vorher einen klaren Plan gemacht oder sogar Unterkünfte gebucht zu haben.

Wer Früchte, Pilze oder Nüsse findet, darf sie behalten. Wer einen Platz so schön findet, dass er dort länger verweilen will, darf das. Und wer einen Weg entdeckt, den er gerne erradeln möchte – nichts wie los. „Zum Recht gehört aber auch, dass man verantwortungsvoll damit umgeht“, sagt Gravelbike-Guide Erik Josefsson. Er selbst, erzählt er auf einer Etappe, habe den großen Traum, am Ufer eines Sees ein Haus zu bauen. Doch weil die Natur in Schweden einen so großen Stellenwert hat, ist das ein beinahe aussichtsloses Vorhaben.

Einzelne Routen sind beliebig kombinierbar

Die Betreiber des Baldersnäs Herrgård hatten in dieser Hinsicht die Gnade der frühen Geburt. Das herrschaftliche Anwesen steht auf einer kleinen Anhöhe direkt am See Laxsjön. Carl Fredrik Waern, der das Anwesen im 19. Jahrhundert kaufte, war fasziniert von englischen Parks und schuf sich hier einfach seinen eigenen. So edel und exklusiv das Baldersnäs nach außen daherkommt, so locker geht es doch zu. Radfahrer sind hier jederzeit willkommen. Mit seiner abgeschiedenen und doch zentralen Lage mitten in Dalsland ist das Gut der perfekte Ausgangspunkt für Tagestouren auf dem Gravelbike.

Die offiziell ausgewiesenen Routen sind so konzipiert, dass sie ineinander fließen und Radler sie so beliebig miteinander kombinieren können. So sind kurze Ausflüge mit gut 20 Kilometern, aber auch Etappen mit über 100 Kilometern möglich. Dabei ist man als Gravelbiker freilich nicht immer nur auf breiten Schotterpisten unterwegs, das Rennrad fürs Gelände macht es möglich. Sogar schmale Wanderwege sind kein Problem. Und im Zweifel – der Sommer in Schweden hält eben auch das bereit – geht’s auch durch tiefe Regenpfützen.


INFORMATIONEN

Nördlich von Göteborg liegt die Region Dalsland. Mit ihren Seen, Flüssen und Kanälen ist sie ein Paradies für Bootsfahrer und Wasserfreunde aller Art. Gerade entwickelt sich Dalsland auch zu einer Rad-Destination – Hunderten Kilometern Schotterstraßen sei Dank.

ANREISEN

Mehrmals pro Tag fliegt Lufthansa von München aus Göteborg an. Der Flug dauert knapp zwei Stunden. Danach geht es mit dem Zug noch einmal eine Stunde nördlich nach Dalsland. Reisende, die aus Südostbayern mit dem Auto oder Wohnwagen anreisen möchten, sollten etwa 15 Stunden Fahrtzeit (mit Fähre über die Ostsee) einplanen.

ÜBERNACHTEN
Nach der Anreise lohnt es sich, Göteborg zu erkunden. Teil des Kulturprogramms könnte eine Übernachtung im Hotel Royal sein. Es ist das älteste der Stadt (Baustart 1850) und macht seinem Namen alle Ehre. Herrschaftlich residiert es sich im Baldersnäs Herrgård mitten in Dalsland. Das Anwesen liegt traumhaft abgelegen an einem See und ist ein guter Ausgangspunkt für Rad-Touren. Auf dem Campingplatz Ragnerud geht es ursprünglicher zu. Er liegt ebenfalls an einem See. Die regionale Küche im angeschlossenen Restaurant ist Michelin-Stern-verdächtig.

vastsverige.com/en/dalsland/cycling/gravel-cycling/


Redakteur Alexander Augustin reiste auf Einladung von Visit Sweden nach Dalsland – und saß dabei auch erstmals auf einem Gravelbike. Begeistert davon, legte er sich nach der Reise gleich selbst eines zu.

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