Estland: Weihnachten wie im Märchen

24.12.2022 | Stand 17.09.2023, 6:56 Uhr

Sechs Wochen sind die Stände des romantisch geschmückten Tallinner Weihnachtsmarkts für seine Besucher geöffnet. −Fotos: Koschinski

Estland ist ein vergleichsweise kleines Land in Europa. Zur Weihnachtszeit begehen die Menschen dort aber ganz besondere Traditionen – und man feiert länger als anderswo. Wer sich ein Weihnachten wie im Bilderbuch wünscht, der ist dort definitiv richtig.

Im Gegensatz zu vielen hiesigen Weihnachtsmärkten, die im Schnitt eine Woche dauern, hat der in Tallinn sechs Wochen lang geöffnet. Bereits im November stellen die Esten die ersten Bäume auf – und sie bleiben stehen. Bis ins neue Jahr hinein. Der Baum scheint hier nicht nur ein Baum, sondern viel mehr ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Zeit zu sein. Und wer aufmerksam durch die Straßen Tallinns läuft, der findet mehr als nur einen.

In der Hauptstadt soll außerdem im Jahr 1441 der erste Weihnachtsbaum gestanden haben und war somit der frühste geschmückte Weihnachtsbaum in Europa. Zunächst nur mit Äpfeln, später dann auch mit Papierschmuck verziert, war es bei den Esten Brauch, um den Baum herum zu tanzen und ihn anschließend zu verbrennen. Diese Tradition gibt es auch heute noch. Ende Januar können private Haushalte ihren Christbaum bei der Stadt abgeben. Diese werden dann zusammengebunden und öffentlich verbrannt.

Und eine weitere ist hinzugekommen: Auf der Insel Saaremaa werden ausgediente Christbäume auf eine außergewöhnliche Art und Weise verarbeitet – die Nadeln der Bäume werden zu Gin. Doch das ist nur eines von vielen Dingen, die die Esten auf ihre Weise ein bisschen anders machen.

Aus Tannennadeln wird Gin hergestellt

Nicht umsonst ist der Tallinner Weihnachtsmarkt auch dieses Jahr wieder auf der Liste der englischen Zeitung „The Times“ auf Platz zwölf der besten Weihnachtsmärkte in Europa. 2019 wurde er sogar zum beliebtesten in ganz Europa gekürt. In Estland ist der Weihnachtsmarkt das Highlight schlechthin in dieser Zeit. Er ist eine Art sozialer Treffpunkt, ein Ort, an dem Familie und Freunde zusammenkommen und sich nach der Arbeit oder am Wochenende treffen. Hört man hier Esten untereinander reden, fällt es schwer, die Wörter einer Sprache zuzuordnen. Entfernt erinnert es an finnisch, aber da ist noch etwas anderes mit dabei.

Hörbeispiel: So hört sich die estnische Sprache an:



Estnisch gehört zur uralischen Sprachfamilie, dem finno-urgischen Zweig und ist ein Mix aus Finnisch und Ungarisch. Doch jeder Este kann noch mindestens eine weitere Fremdsprache. Viele von ihnen sprechen Russisch oder Finnisch, die jüngere Generation kann oft Englisch.

Wer aufmerksam hinschaut, dem fällt auf, dass viele Esten eine kleine Figur aus Plastik an einem Band an ihrer Jacke baumeln haben. Reflektoren. Auch wenn manche eine Art Modetrend daraus gemacht haben, sind sie eher von praktischer Natur. „Weil es in Estland im Winter lange dunkel bleibt und dann auch früh wieder dunkel wird, ist es Pflicht für uns, diese Reflektoren zu tragen“, erklärt Tourguide Eva-Maria Egipt-Peenmaa. Wer keinen vorweisen kann, muss Strafe zahlen. Für Touristen gilt die Regelung nicht, denn diese wissen oftmals ohnehin nichts davon.

Auf dem Weg in die Altstadt findet sich in einigen der Schaufenster weihnachtliche Dekoration. Eigentlich weniger verwunderlich zu dieser Zeit des Jahres, doch es steckt ein Wettbewerb dahinter: Bis Weihnachten hat jedes Geschäft die Möglichkeit, sein Fenster zu schmücken. Ein Gremium der Stadt kürt nach dem heiligen Fest dann das Gewinner-Fenster.

Wer dem weihnachtlichen Treiben ein wenig entkommen möchte, trotzdem aber in festlicher Stimmung bleiben will, für den ist ein Ausflug ins Kakerdaja Moor eine gute Abwechslung. Knapp anderthalb Stunden mit dem Auto von Tallinn entfernt, erstreckt sich das 2400 Hektar große Moorgebiet über eine fast unberührte Landschaft.
Auf dem Weg zum Moor stehen einige Infotafeln. Sie sind auf Estnisch, denn wie Tourguide Eva-Marie Egipt-Peenmaa weiß, sind sie aus dem Jahr 1999. Doch bald soll es hier auch Informationen auf Englisch geben. Im Wald findet man immer wieder Feuerstellen, die mit Holzscheiten und Spiritus ausgestattet sind. Jeder, der möchte, kann hier ein Lagerfeuer errichten. Nach circa zehn Gehminuten lichtet sich der Wald und der schneebedeckte Trampelpfad geht über in einen schmalen Weg aus Metall. Unter dem Metallpfad befinden sich Holzbalken, die zu beiden Seiten des Weges herausragen. „Wenn euch jemand entgegenkommt, stellt ihr einen Fuß auf das Holz, damit die andere Person an euch vorbei kann“, erklärt Eva-Maria. Abgesehen von den Informationen, die sie über eine Art Walkie-Talkie überträgt, herrscht im Kakerdaja Moor absolute Stille. Die einzigen Geräusche sind das Knistern des Schnees unter den Schuhen sowie das leichte Rieseln des Schnees auf der Kapuze. Immer wieder wachsen Bäume aus dem Moor. Weil das Wasser nährstoffarm ist, bleiben sie verhältnismäßig klein und das, obwohl sie schon mehrere hundert Jahre alt sind, erklärt Eva-Maria.
Trotz der konstanten Bewegung wird es irgendwann ziemlich kalt im Moor. Deshalb empfiehlt sich sowohl in der estnischen Natur als auch auf den Weihnachtsmarktbesuchen der sogenannte „Zwiebel-Look“. Mehrere Schichten aus Kleidung übereinander sollen warmhalten und bei beheizten Zwischenstopps, beispielsweise in Restaurants, kann dann je nach Bedarf eine Schicht abgelegt werden. Um die Landschaft trotz der Kälte und dem teils eisigen Wind genießen zu können, sollten in jedem Koffer eine Strumpfhose, warme Socken, Handschuhe, Mütze oder Stirnband, Schal und dicke Pullis sein.
Und wer dann immer noch friert, trinkt entweder einen Schluck des „Vana Tallinn“ Schnaps – eine Mischung aus Kräutern und einem Hauch von Marzipan oder geht in die Sauna. Ein Hobby, das nicht nur bei den Finnen sehr beliebt ist. Das Jahr 2023 steht bei den Esten unter dem Motto „Sauna“. Es gibt sie in allen möglichen Formen und Variationen. Im Iglupark in Tallinn, direkt an der Ostsee, nutzen die Esten die Sauna nicht nur zum Schwitzen, sondern auch zum Arbeiten oder Übernachten. In den letzten beiden Fällen natürlich nicht mit Holzbänken und heißen Steinen mit Überguss, sondern mit Tisch und Stühlen oder Bett und Dusche.
Die sogenannten Iglu-Saunen sehen aus wie das Gebilde, nach dem sie benannt wurden, jedoch sind sie schwarz statt weiß. Das Fichtenholz wurde in mehreren Schichten übereinandergelegt. So hält es der Witterung viele Jahre stand. Und wenn es dann anfängt zu schneien, sehen die kleinen Gebäude fast wie echte Iglus aus.
Der Park selbst gleicht einem kleinen Weihnachtsmarkt. Überall hängen Lichterketten und die Iglus wurden zu Buden mit Glögi, dem estnischen Pendant zu unserem Glühwein, und Leckereien umfunktioniert. Doch nicht nur hier, sondern in ganz Estland verteilt bietet sich den Esten die Möglichkeit für einen Saunabesuch – sei es in einer öffentlichen oder privaten. Letztere sollen kommendes Jahr mehr im Rampenlicht stehen. So zumindest der Plan von Elin Priks. Für sie ist Saunieren eine Art Ritual, bei dem essenzielle Aspekte wie die Saunakultur, ihre Besucher, aber auch die verwendeten Produkte im Fokus stehen. Der Gang in die private Sauna wird bei den Esten regelrecht zelebriert. „In die Sauna zu gehen macht das Land, die Leute und die Gesellschaft aus“, erzählt Elin Priks, Projektmanagerin des Sauna-Jahres. „Man trifft sich mit Freunden und der Familie. Die Natur und das innere Selbst werden miteinander verbunden.“

Die Adventszeit wird mit Lichtershow zelebriert

Wer nach einem Besuch des Tallinner Weihnachtsmarkts noch nicht ausreichend in Weihnachtsstimmung ist, der sollte es spätestens in Tartu sein. Mit knapp 100.000 Einwohnern ist sie die zweitgrößte Stadt des Landes. Wer hier an einem der vier Adventssonntage um 17 Uhr vorbeikommt, erlebt eine einzigartige Zeremonie. Zwischen den Buden, die im Gegensatz zu denen in Tallinn nicht aus Holz, sondern aus Glas sind, drängen sich Besucher dicht an dicht. Jung und Alt wartet darauf, dass sie endlich angezündet wird: die nächste Kerze. Nach einer kurzen Rede wird es plötzlich still auf dem vollen Platz und alle warten gespannt darauf, was passiert.
Über den Glashütten wird Rauch in die Luft geblasen und dann erstrahlt der Himmel in bunten Farben. Viele kleine Schneeflocken fallen wie Glitzer durch das bunte Lichtermeer, das entfernt an die Polarlichter erinnert. Große bunte Lichtkegel erleuchten den dunklen Himmel und über die Fassade der Häuser am Rande des Stadtplatzes laufen Umrisse verschiedener Lichter-Tiere, zu denen auf estnischer Sprache eine Geschichte erzählt wird. Es braucht keine Sprachkenntnisse, die Bilder und Lichter sprechen für sich. Plötzlich ist der Zauber vorbei, und die Besucher verteilen sich auf dem Weihnachtsmarkt. Ein paar Familien sitzen am Lagerfeuer und grillen Marshmallows, andere laufen um die Statue eines sich küssenden Pärchens unter einem Regenschirm Schlittschuh.

Eindrücke von der Lichtershow sehen Sie hier im Video:


Das ganze Setting wirkt wie eine Kulisse, fast so, als sei es Teil eines Märchens, das Kinder vor dem Einschlafen vorgelesen bekommen. Der Weihnachtsmarkt ist kleiner als in Tallinn, dafür besinnlicher und irgendwie auch gemütlicher. Aber auch hier darf der große Christbaum in der Mitte des Platzes nicht fehlen. Und überall, wo noch ein Platz zu finden war, hängen, wie in Tallinn auch, Zettel mit Wünschen an dem Baum. Weihnachten wie aus dem Bilderbuch – das können die Esten.


Autorin Sarah Koschinski besuchte auf Einladung von Visit Estonia die Städte Tallinn und Tartu.