Der usbekische (Alp-)Traum

26.11.2022 | Stand 19.09.2023, 3:33 Uhr
Doris Groß

Tagsüber schon ist der Registan-Platz in Samarkand atemberaubend schön, am Abend aber strahlt er richtig. −Fotos: Rettig

Von Sascha Rettig

Manchmal liegen Traum und Alptraum auf Reisen dicht beieinander.
In Usbekistan sind es rund 400 Kilometer und man landet nach einem idyllisch anmutenden Öko-Alptraum direkt im Traum aus 1001er Nacht.

Dieser Sonnenuntergang ist traumhaft, eigentlich. Wie das wolkenlose Dunkelblau des Himmels auf das wellige Blau des Aral-Sees trifft. Wie die untergehende Sonne dazwischen präzise einen rot-goldenen Streifen über den Horizont zieht. Ganz so, als würde vom See ein geheimnisvolles Glimmen ausgehen. Bei aller Schönheit ist dieses Panorama allerdings trügerisch. Denn es setzt sich auch in diesem Moment vor den Augen eine gigantische Umweltkatastrophe fort: ein von Menschen gemachter Öko-Alptraum, der sich schleichend, aber mit großer Wucht entwickelte. Denn einst zählte der See, der in Usbekistan und Kasachstan liegt, zu den größten Binnengewässern der Welt.

Ende der 50er Jahre, als der zentralasiatische Vielvölkerstaat noch zur Sowjetunion gehörte, kam Stalin auf die Idee, Baumwolle in Usbekistan anzubauen. Dafür wurde Wasser gebraucht. Zu viel Wasser. Und weil über die beiden Flüsse Amudarja und Syrdarja nicht mehr genug zufließen konnte, begann der See zu schrumpfen, teilte sich und wird bis heute – anders als auf kasachischer Seite – in Usbekistan immer noch kleiner von Jahr zu Jahr.

Ab einem bestimmten Punkt gibt es keine Straßen mehr

Am Ufer lebt daher heutzutage niemand mehr. Nur wenige Touristen, die abenteuerfreudig genug sind, finden in diese hundsverlassene Gegend. Schließlich dauert es fast einen Tag, um ans Ufer zu gelangen – und wer den fast 400 Kilometer langen Trip auf sich nimmt, muss sich auf einen wilden Jeep-Ritt einstellen. Ab einem bestimmten Punkt gibt es schließlich keine Straßen mehr. Dann geht es einfach offroad weiter. Quersteppenein. Mohammed, der Fahrer, umklammert mit seinen großen Händen fest das Lenkrad und brettert stoisch über den Steppenboden. Hochkonzentriert erkennt er die vagen Pfade und die richtige Piste. Erst am Abend trifft der Jeep schließlich im Jurtencamp in Ufernähe ein. Aus der Distanz des Touristen-Camps betrachtet, wirkt der See vor allem wegen der sommerlichen Hitze einladend zum Baden.

Am nächsten Morgen, von nächster Ufernähe aus, sieht das schon wieder ganz anders aus. Wer kühn oder wahrscheinlich wahnsinnig genug ist, geht trotzdem rein. Zunächst muss man mühselig durch dicken, festen, stinkenden, schwarzen Schlamm stapfen, bis man tief genug im Wasser ist. Wenn man sich darin dann ins nasse Ungewisse fallen lässt, merkt man: Wie im Toten Meer treibt man an der Oberfläche. Denn durch die Austrocknung ist die Salzkonzentration des Aral-Sees um ein Vielfaches gestiegen, was für ein Fischsterben sorgte.

Auf dem Rückweg geht es mit dem Jeep dann bis in die ehemalige Hafenstadt Muynak: Wieder Stunden wild rumpelnd über den früheren Grund des Sees. Karg, staubig, trocken. Allerdings befinden sich auf dem Boden nicht nur Wüstensand, sondern auch Salz und chemische Rückstände von Herbiziden, die einst im Wasser landeten. Die Austrocknung des Aral-Sees und die Auswirkungen durch schädlichen Salzstaub und schlechte Wasserversorgung werden überraschenderweise im kleinen, ökologischen Museum in Muynak ganz offen zum Thema gemacht. Beispielsweise auch, dass der Anteil an Atemwegserkrankungen und Krankheiten wie Speiseröhrenkrebs hier in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gestiegen ist. Die Stadt selbst war dabei in einem desolaten Zustand. Erst nachdem der usbekische Präsident 2018 persönlich auf Visite gekommen war, wurde Muynak herausgeputzt.

Auch die aufgehübschte Seepromenade von einst existiert sogar noch. Kaum vorstellbar, dass an dieser Stelle bis in die späten 70er Jahre Wasser an die Mauer schwappte, in einer Fischfabrik Millionen Konserven produziert wurden und viele Familien von der Fischerei lebten. Heute ist die usbekische Kleinstadt, die einst als Insel im See ein beliebtes Ziel für Urlauber war, vom Sand umzingelt. Einige der ehemaligen Fischerboote rosten bis heute im staubigen Boden vor der Promenade vor sich hin – ein morbides Mahnmal.

Die meisten Touristen in Usbekistan bekommen die Aral-Katastrophe nicht so direkt mit. Sie erfüllen sich den Reise-Traum aus 1001er Nacht, der knapp 400 Kilometer von Muynak entfernt geträumt werden kann. Dieser Traum beginnt hinter den wuchtigen Stadtmauern von Khiva. Gäbe es nicht die Souvenirstände, hätte man den Eindruck, um Jahrhunderte zurückchauffiert worden zu sein. In Khiva sehen viele Touristen die erste Koranschule, eine sogenannte Medrese. Die erste prachtvolle Moschee. Den ersten Palast. Und sind ganz hin und weg von diesem UNESCO-Weltkulturerbe mit all den kunstvollen Verzierungen.

Es leben noch Einheimische in der restaurierten Altstadt. Vor allem aber werden die Gassen von Touristen durchströmt. Entsprechend reihen sich in den Gassen Geschäfte und Stände für Souvenirs, Schals, Schmuck und Puppen aneinander. Dazwischen Museen und usbekische Restaurants, wo mit Vorliebe das Nationalgericht Plow, ein schweres Pilaw-Reisgericht, auf den Tisch kommt.

Hoch oben auf dem Minarett Islam Khodja kann man sich um einen Blick über die Stadt drängeln. Oder, noch viel besser, auf einer der vielen Dachterrassen der untergehenden Sonne bei ihren Farbspielen zuschauen. Die Altstadt mit ihren Kuppeln, Medresen, Minaretten und Moscheen erscheint zu dieser Tageszeit wie ein von der Gegenwart umzingelter Traum in intensiven Farben. Die Kacheln der Minarette in Blau, Türkis und Grün strahlen dann im warmen Sonnenlicht aus den lehmigen Wüstenfarbtönen dieses Open-Air-Museums heraus.

Auch die nächste Stadt Buchara spiegelt den Reichtum an historischen Bauten wider, der für Usbekistan Fluch und Segen zugleich ist. Fluch, weil damit die Mammutaufgabe der Erhaltung einhergeht. Segen, weil die Städte dadurch attraktiv werden und der Tourismus boomt. Bereits zu Sowjetzeiten wurde mit der aufwendigen Restaurierung begonnen und wird bis heute – mit dem Hang zur überpolierten Rekonstruktion – fortgesetzt. Buchara ist deutlich größer als Khiva und eine über 2500 Jahre alte Oasenstadt, die einst eines der Zentren der Seidenstraße war. Im Zentrum kann man sich bis heute zwischen den Spuren dieser Vergangenheit treiben lassen: zwischen Basaren und Lehmbauten, Moscheen und Mausoleen, der Ark-Festung aus dem 5. Jahrhundert und dem prachtvollen Poi-Kalon-Ensemble mit dem Kalon-Minarett aus dem 12. Jahrhundert.

Einstige russische Herrschaft noch sichtbar

Bis heute ist Usbekistan ein Vielvölkerstaat, wo neben Usbeken unter anderem Tadschiken, Karakalpaken, Kasachen leben – und Russen. Bis zur Unabhängigkeit 1991 gehörte das Land schließlich zur Sowjetunion. In Samarkand, der letzten Station der Reise, ist diese russische Herrschaft, die 1868 begann, noch in einem ganzen Stadtteil sichtbar. Orientalisches Flair hat diese ansonsten moderne Großstadt mit großen Wohnblöcken und breiten Straßen kaum zu bieten – auf den ersten Blick zumindest.

Das vergisst man allerdings schnell wieder, sobald man die historischen Schätze ansteuert, die noch einmal Jahrhunderte älter sind – wie die über neun Jahrhunderte immer weiter ausgebaute Gräberstraße Shohizinda mit ihren reich verzierten Mausoleen. Der 1405 verstorbene Eroberer Amir Timur, der für das neue Usbekistan zum Nationalhelden erkoren wurde, prägte diese Stadt. Im nach ihm benannten Timuridenstil ließ er in der Hauptstadt seines zusammeneroberten Riesenreiches Prachtbauten errichten, etwa die nach seiner Lieblingsfrau benannte Moschee Bibi Khanum. Timur selbst liegt zudem im prächtigen Gur-Emir-Mausoleum begraben.

Herzstück Samarkands ist allerdings der monumentale Registan-Platz mit seinem Ensemble aus drei (keramik-)verzierten Medresen mit mächtigen Portalen. Am Abend findet dort eine Lichtshow statt. Und doch ist dieser Höhepunkt der Usbekistan-Reise am schönsten, am eindrucksvollsten, wenn er ganz einfach im hellen Schein des warmen Lichts unter dem Nachthimmel leuchtet. Augen auf und diesen orientalischen Traum aus einer längst vergangenen Zeit träumen, denkt man sich einmal mehr. Denn schon mit der Abreise über die neue Schnellzugtrasse nach Taschkent ist er viel zu schnell wieder ausgeträumt.


Sascha Rettig ist freier Reisejournalist aus Berlin.


INFORMATION
Usbekistan ist ein Staat in Zentralasien mit rund 35 Millionen Einwohnern. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1991 gehörte Usbekistan zur Sowjetunion, weshalb dort heute noch viele russische Bürger wohnen, aber auch unter anderem Tadschiken, Karakalpaken und Kasachen. Die Seidenstraße, eine alte Handelsroute zwischen China und dem Mittelmeer, auf der Gewürze, Stoffe und andere Waren transportiert wurden, führte durch das Land. Wer Usbekistan besucht, möchte vor allem seine vielen prächtigen Bauten wie Moscheen, Mausoleen und Paläste sehen.
Reisen nach Usbekistan: Nomad Reisen bietet unterschiedliche Reisen in kleinen Gruppen nach Usbekistan an oder organisiert individuelle Aufenthalte. Eine 12-tägige Reise entlang der Seidenstraße kostet ab 2395 Euro. Die 26-tägige Reise „Seidenstraße umfassend“ ist ab 3490 Euro buchbar. Infos unter https://nomad-reisen.de

ANREISEN
Von Frankfurt aus gibt es Direktflüge in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Die Flugzeit beträgt etwas mehr als sechs Stunden.

KULINARIK
Das usbekische Nationalgericht heißt „Plow“. Es ist ein schweres Gericht, das traditionell aus Reis, Zwiebeln, Brühe und eventuell Fleisch oder Fisch zubereitet wird.

REISEINFO
An den Grenzregionen zu Afghanistan und den Grenzgebieten zu Tadschikistan und Kirgisistan ist laut Auswärtigem Amt von „einer latenten Gefährdung durch islamistisch orientierte extremistische Gruppen auszugehen“. Es rät daher, umsichtig durch das Land zu reisen. Mehr Informationen und konkrete Verhaltenstipps für die Reise lassen sich auf der Website des Auswärtigen Amtes nachlesen.

www.uzbekistan.travel/de

www.auswaertiges-amt.de