REISE-REPORTAGE
Armenien im Aufwind

01.11.2024 | Stand 04.11.2024, 14:07 Uhr |

Zum Greifen nah: Wie aus dem Nichts erhebt sich der Ararat – der heute in der Türkei liegt – vor dem Kloster Chor Wirap. Dazwischen liegt die türkisch-armenische Grenze . − Fotos: Schunck, Elsberger

Armenien will sich als Reiseziel etablieren. Kein Wunder: Das kleine Land in Vorderasien ist reich an kulturellen Schätzen. Seine Vergangenheit macht es dem Land aber nicht leicht, richtig durchzustarten.

Irgendwann wird Frieden herrschen, sodass sein schönes, kleines, uraltes Land endlich aufblühen kann, hofft Aram Mnatsakanyan. Auch wenn Millionen seiner Landsleute ihre Heimat Armenien in den vergangenen Jahren verlassen haben, er will bleiben. Der Tour-Guide sprüht vor Begeisterung für sein Heimatland im Kaukasus, auch wenn er viele Krisen miterleben musste: den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Hunger, die Kälte, die Perspektivlosigkeit, Wirtschaftskrisen, Gebietsabtretungen und das schreckliche Erdbeben 1988, welches sämtliche Infrastruktur zum Erliegen brachte. Im September 2023 folgte die nächste Krise: Aserbaidschan beanspruchte die Region Bergkarabach endgültig für sich. Die Folge: Über Hunderttausend Armenier mussten die Flucht ergreifen.

Hinter die Fassaden zu blicken, lohnt sich



Die vielen Krisen seien kein Tabuthema, sagt Aram. Trotzdem gebe es viel mehr über sein Land zu erzählen – über die Kirchen, Klöster, uralten Kreuzsteine und die Weinkultur, die sein Volk viel mehr widerspiegeln als Blut und Tränen. Und auch wenn das Stadtbild von Plattenbauten geprägt ist. Hinter die Fassaden zu blicken, lohnt sich. Die Gärten sind versteckte Paradiese. Liebevoll pflegen Armenier ihre Obstbäume, die Schatten spenden. Gäste werden stets mit einem Teller voll mit Feigen, Trauben, Birnen und natürlich Aprikosen begrüßt, auf die sie besonders stolz sind. Aprikosen, so glaubt man, haben ihren Ursprung im heutigen Armenien. Die Frucht ist sogar ein Nationalsymbol. In der Robustheit des Baumes sehen Armenier ihre Stärke und Wehrhaftigkeit verkörpert, die sie so oft unter Beweis stellen mussten.

Eigentlich hätte das kleine Land im Kaukasus alles, um durchzustarten: Bildung hat einen hohen Stellenwert. Technische Berufe sind beliebt, die IT-Branche boomt. Geschichtsträchtige Stätten und die wilde Natur locken Touristen an. Aber es ist ein Aufbruch mit Hindernissen. Umgeben von Georgien, der Türkei, dem Iran und Aserbaidschan verschmelzen in Armenien europäische und zentralasiatische Einflüsse. „Mit einem Fuß stehen wir in Europa, mit dem anderen in Asien“, sagt Aram. Wobei man sich mehr dem Westen zugehörig fühle, „der Balkon Europas“ sei. In erster Linie steht Armenien allerdings zwischen den Fronten. Zu gerne würde sich das Land losreißen von den Zügeln der Türkei und Aserbaidschans.

An die finsteren Stunden erinnert tagtäglich der Ararat. Wie auf dem Präsentierteller hockt der über 5000 Meter hohe Berg wie ein Wächter vor der Hauptstadt. Nachdenklich blickt Aram in Richtung des Ararat, der sogleich mit Schmerz und Schönheit verbunden ist. „Heute hat er gute Laune.“ So heißt es im Volksmund, wenn die verschneite Spitze sichtbar ist. Auf den Hängen soll Noahs Arche gestrandet sein, weshalb der Berg für die christlich-geprägten Armenier besonders bedeutsam ist. Als erstes Land der Welt hat Armenien 301 nach Christus das Christentum offiziell zur Staatsreligion erklärt.

Bedeutung hin oder her. Für die Armenier bleibt der Berg nur zum Greifen nah. Deutlich wird das in Chor Virap. Vor den Toren des Klosters erhebt sich der Berg wie aus dem Nichts. Der Grenzzaun, der sich bis in den Horizont schlängelt, erscheint fast unbedeutsam. Aber es gibt kein Durchkommen zum Ararat, der in der historischen Region Westarmenien liegt: heute türkisches Staatsgebiet. Die Grenze ist seit Jahrzehnten geschlossen. Die Beziehung zur Türkei ist verhärtet. Denn vor rund 100 Jahren fielen Schätzungen zufolge 1,5 Millionen Armenier einem Völkermord im Osmanischen Reich zum Opfer. Die Türkei erkennt das bis heute nicht an. Eine von vielen Wunden.

Musik verbindet Armenier in allen Ländern



Als würden sie die traurige Geschichte ihres Volkes erzählen: So klingt es, wenn Sofya, Hasmik, Mariam, Marine und Shahane singen. Die Frauen, die das „Luys Vocal Quintet“ bilden, stehen im einzigen Lichtschein, welches durch die kleine Luke ins sonst dunkle Kloster Geghard geworfen wird, welches im 4. Jahrhundert unweit der Hauptstadt in eine Felsschlucht geschlagen und zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.

Die Zuhörer sind zu Tränen gerührt und berühren ehrfurchtsvoll die Kreuze in der Höhle. Die Musikerinnen singen seit 20 Jahren miteinander. „Aber es ist jedes Mal wieder ein magischer Moment“, erzählen die fünf Frauen.

Dieses Gefühl kennt auch Karen Hakobayan. „Ich fühle die Klänge ganz nah am Herzen“, sagt der Musiker, bevor er mit seiner Duduk – eine traditionell armenische Oboe aus Aprikosenholz – die ersten Töne anstimmt. Wir sitzen in seinem selbstgeschaffenen Garten Eden. Überall grünt und blüht es in diesem kleinen Idyll inmitten der Hauptstadt. „Im Frühling wollen sogar die Vögel mitsingen“, erzählt der Musiker, der sogleich alte armenische Volkslieder anstimmt. Die melancholischen, gleichzeitig frohlockenden Töne der Duduk gehen durch Mark und Bein.

Dass die Lieder heute so erklingen können, verdanken die Armenier ihrem Volkshelden Komitas. Er hat in den Wirren der Verfolgung seines Volkes in weiser Voraussicht Volkslieder verschriftlicht und vor dem Vergessen bewahrt. Dank Komitas hat die Seele des armenischen Volkes auch weiter eine singende Stimme – egal, wo sie in der Welt erklingt.

Die Meisterin der Steine



Man muss genau wissen, wie man mit dem Stein sprechen muss, sagt Narine Poladian. Geübt setzt die 30-Jährige den Meißel an und schlägt mit dem Hammer drauf. Sie braucht nur wenig Schwung, um eine Kerbe in den leicht angefeuchteten Tuffstein zu schlagen. Das wiederholt sie mehrfach, bevor sie das Werkzeug ihrem Schüler in die Hand drückt. Denn Übung macht den Meister – oder die Meisterin.

Narine ist die erste Frau in Armenien, die „Khachkars“, eines der wichtigsten Kulturgüter, herstellt. Über 50 000 dieser Kreuzsteine gibt es, was Armenien den Namen „Land der Steine“ einbrachte. Sie stehen an jeder Ecke: vor Kirchen, Klöstern, in Felswänden, an Wanderwegen oder in der Natur. Jeder Kreuzstein ist einzigartig und wurde als Gedenken, aus Dankbarkeit oder Erinnerung an ein Schicksal aufgestellt. Diese Tradition besteht seit dem 10. Jahrhundert – bis heute.

Die Anfertigung ist traditionell Männersache, erklärt Narine, die sich von diesem Rollenbild nicht stoppen lässt. „Manche glauben, dass eine Frau keine Steine bearbeiten kann, weil es harte Arbeit ist“, kennt Poladian die Meinung ihrer Zweifler. Aber wisch und weg damit. Wie mit dem Staub auf dem Stein, den sie gerade bearbeitet. „Ich würde mich freuen, wenn mehr Frauen dieses Handwerk ausüben.“

Aufgewachsen ist sie im Libanon, als Tochter einer armenischen Familie besuchte sie armenische Schulen und hörte von den Kreuzsteinen. „Ich war sofort verliebt“, erzählt die 30-Jährige. Ihr Weg führte sie nach Armenien, wo sie beschließt, das Handwerk zu lernen. Aus einem Hobby wurde eine Sucht. Immer weiter bildete sie sich fort. Inzwischen hat sie eine eigene Werkstatt in Gymri, der zweitgrößten Stadt des Landes. „Mein Mann hat extra seine Garage für mich geräumt“, erzählt sie. Seit 2020 bietet sie Workshops an, „um unsere Kultur weiterzugeben“. Bis zu 40 Tage braucht sie für einen Stein. Anfragen kommen aus aller Welt. Stressen lässt sie sich nicht. Denn sie will ausschließlich positive Energie an die Steine weitergeben.


INFORMATIONEN
Jerewan, Hauptstadt Armeniens, ist eine der ältesten Städte der Welt, mit über 2800 Jahren sogar älter als Rom. 782 v. Chr. wurde auf dem Gebiet von Jerewan eine Stadt namens Erebuni erbaut. Diese Stadt war in den folgenden Jahrhunderten ununterbrochen bewohnt. Heute leben in Jerewan rund 1,1 Millionen Menschen. Charakteristisch für die Architektur ist der rote Tuffstein, mit dem viele Gebäude in der Hauptstadt sowie im ganzen Land verkleidet sind. Den Vulkanstein gibt es in den unterschiedlichsten Rottönen.

ANREISEN
Über Düsseldorf, Frankfurt und Wien gibt es Direktflüge nach Jerewan. Diese sind oft Nachtflüge.

SICHERHEIT
Das Land wird als sicher eingestuft. Nur von Reisen ins Grenzgebiet zu Aserbaidschan rät das Auswärtige Amt ab.

ÜBERNACHTEN
Da Armenien überschaubar ist, bietet es sich an, ein Hotel zu buchen und Tagesausflüge zu unternehmen. Einige Sehenswürdigkeiten sind nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Es gibt aber entsprechende Tour-Angebote.

AUSFLUGSTIPPS
• Im Museum Matenadaran in Jerewan können einige der ältesten Schriften der Welt besichtigt werden. 24 000 Manuskripte wurden im dortigen Institut restauriert und archiviert. Es ist die weltweit größte Sammlung.
• In Armenien wurde der älteste Lederschuh der Welt gefunden. Der Schuh, der auf das Jahr 3500 v. Chr. zurückdatiert werden kann, tauchte bei Ausgrabungen in der Areni-1-Cave auf, die besichtigt werden kann. In der Höhle wurde auch der älteste Weinkeller der Welt entdeckt.
• Vor der armenisch-apostolischen Kirche war Armenien hellenistisch geprägt. Von dieser Zeit zeugt der Tempel von Garni in der Provinz Kotajk, der zwischen all den Kirchen und Klöstern aus der Reihe fällt.
• Abkühlung bietet der Sewan-See. Er ist der größte Süßwassersee des Landes sowie des gesamten Kaukasus.

www.armenia.travel.de
Instagram: armenia.travel


Redakteurin Katja Elsberger recherchierte auf Einladung des „Armenia Tourism Committee“.

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