Bei Hörgeräten denkt man gern an hautfarbene Dinger hinter Opas Ohr. Doch bald geht das auch in Weiß. Apple macht seine Airpods Pro 2 zur Hörhilfe für Menschen mit leichten und mittleren Hörproblemen.
Besser hören mit Kopfhörern? Apples Airpods Pro 2 können in wenigen Tagen auch als Hörgerät eingesetzt werden. Der iPhone-Konzern stößt damit in einen Markt mit etablierten Playern vor, wo besseres Hören mit spezialisierter Technik gerne mal einen mittleren vierstelligen Betrag kostet - oder mehr. Und Apples Hardware-Chef John Ternus setzt die Planke hoch an: „Wir denken, dass es die beste Hörhilfe auf dem Markt sein wird.“ Die Amerikaner meinen es ernst: Ohrstöpsel statt klassisches Hörgerät.
Der Audiometrie-Test zur individuellen Einstellung auf das eigene Hörvermögen kann mit den Airpods und einem iPhone absolviert werden. Die Hörhilfe wird dann automatisch so konfiguriert, dass sie Töne in den Frequenzen verstärkt, in denen Defizite festgestellt werden.
Eine Einschränkung gibt es trotzdem: Die Funktion ist für geringe bis mittlere Schwerhörigkeit gedacht. Beispiele: Bei geringgradiger Schwerhörigkeit kann man etwa das Ticken einer Uhr oder Blätterrauschen nicht mehr hören, bei mittelgradiger können die Grundgeräusche in Wohngebieten nicht mehr wahrgenommen werden.
Bei stärkeren Einschränkungen muss man weiterhin auf klassische Hörgeräte und die Fachkenntnisse von Hörgeräte-Akustikern zurückgreifen. Die Apple-Hörhilfe ist also nicht für jeden Fall von Schwerhörigkeit die schnelle Lösung.
Eine Milliarde potenzielle Kunden
Mit der Hörgerät-Funktion glaubt Apple, einen bisher drastisch unterversorgten Markt ausgemacht zu haben. „Rund um die Welt gibt es mehr als eine Milliarde Menschen mit geringer und mittlerer Schwerhörigkeit“, sagt Sumbul Desai, die Apples Gesundheitsprogramme leitet. Und mehr noch: Drei Viertel derer, bei denen Hörverlust diagnostiziert wird, so sagt sie, bekämen nicht die nötige Hilfe.
„Hörverlust ist so schleichend, dass viele Menschen gar nicht erkennen, dass sie davon betroffen sind“, sagte jüngst US-Hörfachmann Andy Sabin der „New York Times“. Ein weiteres Problem sehen Experten darin, dass einige den Schritt zu klassischen Hörgeräten scheuten. Mit unauffälligen handelsüblichen Ohrhörern entfällt diese Hürde. In den USA wurden rezeptfreie Hörgeräte nach jahrelanger Vorbereitung erst 2022 zugelassen, was letztlich auch der Airpods-Funktion die Tür öffnete. In Deutschland gibt es den Markt schon etwas länger.
Airpods als Hörgerät: Hörtest zu Hause machen
Und wie stellt man nun ein, dass die Ohrstöpsel für Musik und Podcasts nun auch noch ungehörte Dinge wieder hörbar machen? Der Hörtest dauert weniger als fünf Minuten und wird am besten in einer leisen Umgebung durchgeführt. Die Funktion prüft das vor Beginn - und unterbricht den Test auch zwischendurch kurz, wenn es ringsum zu laut werden sollte.
Zunächst muss man drei Fragen beantworten: Ob man bereits 18 ist, aktuell eine Erkältung oder Allergie hat und ob man in den vergangenen 24 Stunden in einer lauten Umgebung wie einem Konzert oder auf einer Baustelle war.
Die Airpods spielen dann - erst im linken Ohr, dann im rechten - Serien aus jeweils drei Tönen in verschiedenen Frequenzen ab, beginnend mit 1000 Hz. Wenn man die Töne hört, soll man das per Tippen auf den iPhone-Bildschirm bestätigen.
Die Töne werden zunächst nach und nach leiser, sie sind erst kaum noch zu hören - und dann gar nicht mehr. Danach wechselt die Software zwischen verschiedenen Frequenzen, die Lautstärke ist dabei oft nahe an der Schwelle des Hörbaren für die Nutzer.
Ähnlich wie bei traditionellen Audiometrie-Tests beim Arzt wird das Ergebnis in der Abweichung von dem gängigen Standard-Hörwert angegeben. Eine Abweichung von bis zu 25 Dezibel gilt dabei als normales Hörvermögen. Das erfordert kein Eingreifen der Airpods zur Verstärkung der Töne. Bei einem Verlust von 26 bis 40 Dezibel ist es ein geringer Hörverlust - und bei 41 bis 60 dB ein mittlerer.
Bis zu sechs Stunden Batterielaufzeit
Die entsprechenden Werte werden als Testergebnis auf dem iPhone angezeigt. Trifft man keine eigenen Einstellungen, fangen die Airpods automatisch an, die Frequenzen, die das Ohr im Test nicht wahrnehmen konnte, zu verstärken. In einer Studie mit rund 200 Teilnehmern wurden die Ergebnisse des iPhone-Tests mit traditionellen Audiometrie-Untersuchungen abgeglichen - die Übereinstimmung lag bei 86,4 Prozent.
Ähnlich wie bei klassischen Hörhilfen verweist Apple darauf, dass es einige Wochen dauern kann, bis man sich daran gewöhnt. Hörbar ist die Verstärkung an sich schnell. In lauten Umgebungen wie Restaurants konnten die Airpods Pro bereits helfen, die Stimme eines Gesprächspartners hervorzuheben.
Auch die neuen Hörfunktionen bauen letztlich auf der ursprünglichen Fähigkeit der Airpods Pro zur Unterdrückung von Umgebungsgeräuschen auf. Für all das berechnen die Ohrstöpsel 48.000 Mal pro Sekunde die Töne und die Reaktion darauf. Der Einsatz der Hörhilfe-Funktion hat Apple zufolge so gut wie keinen Einfluss auf die Batterielaufzeit. Sie sollen bis zu sechs Stunden am Stück laufen können - und mit zwischenzeitlichem Nachladen im Case bis zu 30 Stunden.
Neben dem - im Vergleich zum „echten“ Hörgerät - deutlich weniger diskreten Design ist das ein weiterer großer Unterschied. Die Airpods sind keine Hörhilfe für den Dauereinsatz. Dafür entfällt das Wechseln minikleiner Knopfzellen.
Schutz gegen laute Geräusche
Für Menschen ohne Schwerhörigkeit kehrt Apple die Fähigkeit übrigens um: Die Airpods können auch gezielt laute Geräusche in der Umgebung unterdrücken. Der Konzern entwickelte dafür die Transparenz-Einstellung weiter, die Umgebungsgeräusche mit den abgespielten Inhalten mischt - etwa, damit eine Ambulanzsirene durch die Musik dringt.
„U-Bahn, Busse, Bauarbeiten“ - die Menschen seien im Alltag ständig lauten Geräuschen ausgesetzt, sagt Sumbul Desai. Deshalb sei die Reduktion lauter Geräusche standardmäßig aktiviert. Die Airpods können damit auch als Gehörschutz benutzt werden - etwa bei Konzerten. Die Musik, so sagt Hardware-Chef John Ternus, klinge genauso gut, aber man verlasse den Saal ohne Klingeln in den Ohren. Er selbst nutze die Funktion ständig bei Auftritten der Bands seiner Kinder.
Airpods als Hörgerät: Kommende Woche geht es los
Die Hörhilfe-Funktion soll in Deutschland mit einem Software-Update in der kommenden Woche (ab dem 28. Oktober) freigeschaltet werden. Voraussetzung für die Einrichtung ist ein iPhone oder iPad mit der dann aktuellsten Version von iOS oder iPadOS. Und es müssen die Airpods Pro 2 sein, weil sie mit dem bei Apple im Haus entwickelten H2-Chip laufen. Im Onlinehandel sind Aipods Pro 2 aktuell zwischen 235 und 279 Euro zu haben.
Als Konkurrenz gibt es eine große Anzahl von rezeptfreien Geräten verschiedener Marken - von namhaften Herstellern bis zum 25-Euro-Gerät aus Fernost. Apple hat allerdings den Vorteil des Selbsttests daheim, der die Hörhilfe automatisch einstellt. Und letztlich bekommt man mit den Airpods immer noch Ohrhörer, die mit allen Apple-Geräten kompatibel sind und man muss nicht zwischendurch die Stöpsel wechseln.
© dpa-infocom, dpa:241021-930-266263/1
Artikel kommentieren