Zeitz gilt als eine Wiege der Kinderwagenproduktion. Die Abkürzung Zekiwa steht für eine lange Tradition im Osten. Für Trendexperten ist ein Kinderwagen heute mehr als nur ein Mode(l)l.
Ob mit Rahmen aus Holz, Seitenfenster oder verchromten Rädern, die an einen «amerikanischen Straßenkreuzer» erinnern. Kinderwagen und -sportwagen haben sich im Laufe der Zeit nicht nur optisch verändert.
Wie alles angefangen hat, zeigt das Deutsche Kinderwagenmuseum in Sachsen-Anhalt. Rund 1000 Exponate aus dem 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart umfasst die Sammlung im Schloss Moritzburg in Zeitz.
Die Stadt mit rund 28.000 Einwohnern gilt als eine Wiege der Kinderwagenproduktion. Die Abkürzung Zekiwa - Zeitzer Kinderwagenindustrie - steht für eine über 100-jährige Geschichte der Fertigung, auch von Kindersportwagen und Puppenwagen. Rund 2200 Menschen waren bis zum Mauerfall im DDR-Großbetrieb beschäftigt.
Große Kinderwagenproduktion in Zeitz vor 1990
Zekiwa galt vor 1990 mengenmäßig als der größte Kinderwagenproduzent in Europa, fast jedes Baby in Ostdeutschland lag in einem Wagen aus der Fabrik. Eine Zahl aus dem Museum aus dem Jahr 1980 zeigt die Größenordnung, in der produziert wurde: 368.634 Kinder-, 163.191 Kindersport- und 305.997 Puppenwagen.
Mit dem Strukturwandel in der ostdeutschen Industrie nach dem Mauerfall kam für die Produktion in Zeitz und Tausende Beschäftigte das Aus. Ein Neustart erfolgte in einer weitaus kleineren Firma bei Zeitz, die Modelle unter der Marke Zekiwa entwirft.
Der Kauf eines Kinderwagens sei für Eltern heute fast eine Wissenschaft, meint der Trendforscher Frank A. Reinhardt. «Der Druck, eine optimale Entscheidung zu treffen, ist hoch.» Sicherheit, Einsatzbereiche, Komfort, Flexibilität seien nur einige der wichtigen Faktoren. «Was alles bedacht werden muss, um das Kind optimal zu schützen und ergonomisch zu stützen, verleiht der Kaufentscheidung eine irrationale Tragweite», sagt Reinhardt.
«Da verlassen sich Eltern dankbar auf Produktversprechen, die ihnen etwas von diesem Druck abnehmen - auch wenn es denn ein bisschen teurer ist», sagt der Trendforscher aus Köln. Als Chef einer Design- und Kommunikationsagentur befasst er sich mit der Entwicklung und Gestaltung der Lebenswelt von Generationen.
Ausstellung richtet sich an junges Publikum
Unterdessen will das Deutsche Kinderwagenmuseum künftig mehr junge Besucherinnen und Besucher als bisher ansprechen, wie Museumsleiterin Kristin Otto sagt. Dazu zählten vor allem multimediale, interaktive Angebote für alle Zielgruppen, vom Kindesalter an. Im Durchschnitt kamen vor Beginn der Corona-Pandemie 15.000 bis 16.000 Besucher pro Jahr in das Museum. Ab 2020 habe es dann einen Einbruch der Besucherzahlen angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens in Deutschland gegeben.
Nun kämen wieder mehr: Schulklassen, etliche Individualbesucher, deren Interesse an den jeweiligen Exponaten «ganz klar mit dem eigenen Jahrgang zusammenhängt», sagt Otto. «Da werden Erinnerungen wach, welche Kinderwagen auf Familienfotos abgebildet sind, ob eher schick oder praktisch im Design ausschlaggebend war, aber immer abhängig auch vom Geldbeutel», erfährt sie im Gespräch mit Besuchern.
Zudem gehe es dem Museum darum, mit modernen pädagogischen Konzepten der künftigen Generation von Eltern nicht nur die Modelle zu erklären, sondern auch die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen zu vermitteln. «Aus soziologischer Sicht sind Kinderwagen auch ein Ausdruck der Lebensweise», sagt Otto.
Kinderwagen wird immer mehr zu einem Lifestyle-Statement
Für Trendforscher Reinhardt ist ein Kinderwagen in der modernen Welt auch kein Auslaufmodell. «Im Gegenteil. Zum einen wird der Kinderwagen immer mehr zu einem Lifestyle-Statement, das phasenweise der berühmten Handtasche den Rang abläuft, übrigens wortwörtlich, sieht man sich die passend zum Auto designten Wickeltaschen an.» Aus Sicht von Reinhardt sende eine Ausstattung auch das Signal: «Seht her, ich hab's geschafft, ich kriege Karriere und Baby unter einen Hut, ich bin eine moderne Mutter mit Stil.» Und auch für Väter sei ein multifunktionaler, «cooler» Kinderwagen ein Lifestyle-Symbol, das gleichzeitig fürsorgliche Vaterschaft und gesellschaftlichen Erfolg ausdrückt, beobachtet der Trendexperte.
Hingegen waren allein die Prospekte für Kinderwagen einst fast nur mit Bildern von Frauen versehen, wie die Zeitzer Museumschefin aus dem Fundus belegen kann. Heute seien alle Geschlechter bei dem Thema Kinderwagen gleichauf. «Das ist sehr schön, denn vor gar nicht allzu langer Zeit war dies alles eher die Ausnahme», sagt die Historikerin.
In anderen Regionen der Welt sei es bis heute nicht so, dass wenn ein Baby geboren wird, es in einen Kinderwagen gelegt und geschoben wird. «Immerhin zwei Drittel der Menschheit trägt ihre Kinder», sagt Otto, die auch Ethnologie studiert hat. In Ländern in Afrika und in Lateinamerika würden Babys traditionell in speziellen Tüchern oder Körben getragen. In Asien seien Kinderwagen teils ein Symbol westlicher Lebensweise, eine Art Statussymbol, geworden.
Trendforscher Reinhardt betont zugleich: «Natürlich gibt es kaum einen Trend ohne Gegentrend, keine Hightech-Fans ohne eine Lowtech-Gegenbewegung», erklärt er mit Blick auf Menschen, die sich für andere Lebensweisen entscheiden - mit Tragetuch für das Baby.
© dpa-infocom, dpa:230127-99-379146/3
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