Ein traumatisiertes Land

23.11.2022 | Stand 12.10.2023, 10:16 Uhr

Dieses Bild aus den ersten Kriegswochen, das die Evakuierung einer verletzten Schwangeren aus einer Entbindungsklinik in Mariupol zeigt, verdeutlicht den ganzen Schrecken, den die Menschen in der Ukraine seit dem 24. Februar erleiden. Der landesweite russische Beschuss dauert nun schon seit neun Monaten an. Millionen Ukrainer sind auf der Flucht oder auf humanitäre Hilfe angewiesen. −Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Von Eva Fischl

Was verbindet ein Achtjähriger mit seinem Vater? Neben Geborgenheit vielleicht auch dessen Auto. Das ist bei Oleksander nicht anders als bei vielen Jungs in seinem Alter. Doch bei Oleksander gibt es einen großen Unterschied. Für den Achtjährigen aus Mariupol wird der Jeep des Vaters immer ein Symbol für Tod und Verlust sein. In dem Auto wurde der Mann im Frühjahr dieses Jahres von russischen Soldaten erschossen – Oleksander und sein Bruder Arseniy (15) wären um ein Haar Augenzeugen des Kriegsverbrechens geworden. Doch die Vorstellung vom Jeep, in dem der geliebte Vater verblutet, bekommen die Söhne nicht mehr aus dem Kopf.

So erzählt es Viktoria Fiohnostava, die Leiterin einer Notunterkunft in Lviv (deutsch Lemberg) im Videotelefonat mit unserer Zeitung. In der Einrichtung im Westen der Ukraine fanden Oleksander, Arseniy und ihre Mutter Inna Sobleva nach ihrer Flucht aus Mariupol vorübergehend Zuflucht. In der sicheren Obhut von Victoria malte der Achtjährige ein Bild des Jeeps. Es hängt bis heute an der Bildergalerie und erinnert Victoria daran, warum es sich lohnt, jeden Tag aufzustehen, neue Kräfte zu mobilisieren und den vielen traumatisierten Menschen in ihrem Heimatland zu helfen.

Mit Inna – Oleksanders Mutter – verbindet Viktoria eine tiefe Freundschaft. „Ich bewundere ihren Mut und ihren Willen“, sagt Viktoria über die zweifache Mutter. „Sie hat nie aufgegeben und ist stark für ihre beiden Söhne.“ Vor der russischen Invasion habe Inna als Ingenieurin gearbeitet. „Die Familie hatte eine Wohnung, ein Haus, ein Auto. Die Russen haben ihnen alles genommen − vor allem das Liebste, was sie hatten“, erzählt Viktoria. Nachdem Inna ihren Mann beerdigt hatte, sei sie mit den Jungs aus Mariupol geflohen. Sie hätten Checkpoints und ein russisches Filtrationslager passiert, bevor sie sich nach Lviv durchschlugen. In der Flüchtlingsunterkunft seien sie das erste Mal zur Ruhe gekommen. Inzwischen leben die Drei in Deutschland, in der Gemeinde Bergtreute im Kreis Ravensburg in Baden-Württemberg, bei der Familie eines Klassenkameraden der Jungs. Viktoria: „Sie sind sicher. Aber sie werden ihr Leben lang ein gebrochenes Herz haben.“

Es sind Geschichten wie die von Inna, die Viktoria Fiohnostava als Leiterin der Unterkunft zu hören bekommt. Sie selbst floh aus dem Kiewer Vorort Butscha in den Westen. 2700 Menschen – die meisten davon Kinder, Frauen und ältere Menschen – sind seit dem Frühjahr, als die ukrainische NGO Tvoya Opora die Unterkunft eröffnete, auf ihrer Flucht aus den Kriegsgebieten schon hier durchgekommen. Manche sind seit Anfang an hier. Sie haben kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren können − weil ihre Städte und Dörfer zerstört oder noch immer unter russischer Besatzung sind.

Europa erlebt gerade die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 6,7 Millionen Menschen allein innerhalb der Ukraine auf der Flucht – aus den umkämpften Ostteilen des Landes in den Westen hinein. Sieben Millionen sind ins Ausland geflohen. Weitere 17,7 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe, davon sind 5,5 Millionen Kinder. „Das ist immens, auch gemessen an der Gesamteinwohnerzahl von knapp 44 Millionen“, sagt Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von CARE Deutschland.

„Der Wintereinbruch macht uns große Sorgen“

Die Hilfsorganisation, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, als amerikanische Care-Pakete an hungernde Familien im westlichen Nachkriegseuropa verteilt wurden, ist weltweit tätig. Aktuell liegt einer ihrer Schwerpunkte in der Ukraine, wo sie über lokale Partnerorganisationen landesweit Menschen in Not versorgt. Nach den massiven Luftangriffen auf lebenswichtige Versorgungsstrukturen fürchtet CARE um die Sicherheit und Versorgung der Zivilbevölkerung im Land. Die Zerstörung der Stromnetze hat bei den winterlichen Temperaturen, die mittlerweile in der Ukraine herrschen, dramatische Folgen für die Menschen. CARE rechnet damit, dass erneut viele Betroffene ihr Zuhause verlassen müssen.

„Wir hatten keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung, und der Luftalarm zwang auch uns in den dunklen Schutzraum, wo es besonders kalt war“, beschreibt Marten Mylius, Nothilfekoordinator von CARE Deutschland, die Situation in Lviv. „Der Wintereinbruch macht uns große Sorgen. In Kiew hat es schon geschneit, in den kommenden Wochen werden zweistellige Minusgrade erwartet. Alle fragen sich, wie sie die nächsten Monate überstehen sollen.“ 

„Sie haben überlebt, jetzt müssen sie weiter leben“

Zu den existenziellen Sorgen kommt die extreme psychische Belastung. Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter, enge Freunde sterben. Familien werden auseinandergerissen. „Viele Frauen erleben im Krieg auf unterschiedlichste Art Gewalt und Ausbeutung“, sagt Iryna Trokhym, Leiterin des Centre Women’s Perspectives in Lviv, einer Menschenrechtsorganisation von Frauen für Frauen. Ihnen gelte es jetzt besonders zu helfen: „Sie haben überlebt, aber jetzt müssen sie weiter leben, sie brauchen Kraft für sich und ihre Kinder, Jobs, Perspektiven, einen neuen Sinn.“

Der Krieg traumatisiert gerade ein ganzes Land. Den Menschen in der Ukraine ist in diesem Jahr die Weihnachtsaktion der Passauer Neuen Presse gewidmet. Ihre Spenden, liebe Leserinnen und Leser, fließen in die Hilfsprojekte von CARE. Die Organisation und ihre lokalen Partner unterstützen betroffene Familien mit warmer Kleidung, Decken, Heizgeräten, damit sie den harten Winter überstehen. Es werden notwendige Reparaturen durchgeführt, um die Kälte aus Privathäusern und Notunterkünften fernzuhalten. Kaputte Fenster und Türen werden ersetzt, beschädigte Dächer und Heizungssysteme repariert und Wände isoliert. CARE verteilt Trinkwasser, Lebensmittel und Medikamente an Bedürftige und finanziert sichere Räume, in denen sich Frauen und Kinder geschützt fühlen können und psychosoziale Hilfe erhalten.

Welche Mammutaufgabe vor den Menschen in der Ukraine liegt, weiß auch die deutsche Historikerin und Traumatherapeutin Imke Hansen, die selbst im Osten der Ukraine lebt und landesweit Betroffenen zeigt, wie sie mit traumatischen Erfahrungen umgehen können. „Viele Menschen in den befreiten Gebieten haben Wochen und Monate in ständiger Todesangst verbracht, sind Augenzeugen von Gewalt geworden und selbst davon betroffen gewesen, manche haben Gefangenschaft und Folter überlebt. Es wird Jahre dauern, bis die Städte und Dörfer und die Gesundheit ihrer Einwohner wieder hergestellt sind.“

Um Hilfe langfristig zu mobilisieren, müsse auch in Deutschland weiter über die Ukraine gesprochen werden, fordert die Traumatherapeutin − „egal ob am Küchentisch, im Sportstudio oder am Arbeitsplatz“. Wichtig seien Partnerschaften auf Augenhöhe zwischen Städten, Vereinen oder Freiwilligen Feuerwehren. „Jede Form direkter Kooperation schafft Nachhaltigkeit und Verbindung. Auch Spenden sind weiterhin dringend nötig“, sagt Hansen.

Die meisten Betroffenen, so wird in vielen Gesprächen mit ukrainischen Helfern und Aktivisten klar, wünschten sich nichts so sehr, als so bald wie möglich wieder in ihren Heimatort zurückkehren zu können. Doch dafür muss dieser Krieg erst einmal enden.

URL: https://www.pnp.de/nachrichten/politik/ein-traumatisiertes-land-7618659
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