MGB Interview

Migrationsexperte Knaus fordert mehr EU-Hilfe für ukrainische Flüchtlinge

16.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:56 Uhr

Migrationsforscher Gerald Knaus. −Foto: imago

Migrationsforscher Gerald Knaus kritisiert, dass viele EU-Länder nicht genug für ukrainische Flüchtlinge tun. Im Gespräch mit der Mediengruppe Bayern forderte er mehr Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen und eine humane EU-Grenzpolitik.

Fünf Millionen Ukrainer flohen seit Kriegsbeginn ins Ausland, mehr als eine Million Menschen sind nach Deutschland gekommen. Migration ist eine der größten Fragen der deutschen und europäischen Politik. Widmen wir dem Thema in seiner Gesamtheit genug Aufmerksamkeit?
Gerald Knaus: Wir haben eine historisch außergewöhnliche Situation. Deutschland, aber auch andere Länder in der EU, haben im vergangenen Jahr mehr Flüchtlinge aufgenommen als in irgendeinem Jahr seit den 1940ern. Das stellt diese Länder vor riesige Herausforderungen. Welche politische Debatte hilft hier, Lösungen zu finden, um diese zu bewältigen? Und welche Art von Debatte dreht sich um Scheinlösungen? Diese verstärken nur den Frust oder die Angst vor Überforderung. Und das wird dann von populistischen Kräften ausgeschlachtet.

Fürchten Sie, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt?
Knaus: Es ist bemerkenswert, wie gut die Aufnahme einer Rekordzahl von Flüchtlingen bislang funktioniert hat. Ohne die Unterstützung der Zivilgesellschaft wäre das nicht möglich gewesen. Aber wir sind immer noch mitten in dieser Krise. Die Frage muss sein, wie wir uns auf 2023 vorbereiten. Nehmen wir einmal an, es kämen noch einmal zwei Millionen Ukrainer in die EU und ein Drittel davon nach Deutschland. Möglich wäre es. Was täte man dann? Diese Frage muss man lösungsorientiert diskutieren. Und fragen: wie kann es sein, dass Tschechien in absoluten Zahlen mehr ukrainische Geflohene aufgenommen hat als Frankreich, Spanien und Italien zusammen? Und allein in Baden-Württemberg mehr Ukrainer untergekommen sind als in ganz Frankreich.

Sie plädieren für eine europaweite Aufnahme der Flüchtlinge. Warum klappt das nicht?
Knaus: Wir haben zwar eine gesamteuropäische Richtlinie für die Aufnahme, die es Ukrainern erlaubt, sich überall in der EU niederzulassen, zu arbeiten oder zur Schule zu gehen. Das war sehr wichtig. Wir haben aber keine Initiative, die dafür sorgt, dass eine ukrainische Mutter mit einem Kind in Frankreich, Italien oder Spanien von der Unterstützung dort auch tatsächlich leben kann. Die Ungleichheit der Hilfe in der EU hätte man schon 2022 mit Nachdruck diskutieren müssen, spätestens aber jetzt.

Wäre ein Verteilungsschlüssel eine Lösung?
Knaus: Verteilungsschlüssel haben nie funktioniert und würden jetzt auch nicht funktionieren. Der Vorschlag von meinen Kollegen und mir ist daher, eine Koalition von Staaten zu bilden, die in verschiedenen Ländern die private Aufnahme von Flüchtlingen finanziell durch eine unbürokratische Dankespauschale von einigen Hundert Euro im Monat unterstützen, so wie es das in Tschechien, Irland und Großbritannien gibt. Wenn private Aufnahme in Frankreich, Spanien oder Italien mit 500 Euro vom Staat unterstützt und dann beworben würde, und dies über eine paneuropäische Plattform vermittelt wird, würden dort sicher auch mehr Ukrainer unterkommen. Derzeit ist es aber so, dass eine ukrainische Mutter mit Kind in Frankreich zum Wohnen 200 Euro im Monat erhält, und private Haushalte fast nichts. Die Aufnahme der vielen Flüchtlinge funktioniert nur dank der privaten Unterstützung, aber wenn diese so lange notwendig ist, sollte man sie überall in der EU unterstützen.

Viele Ukrainer kommen nach Deutschland oder in die osteuropäischen Länder, weil sie dort Familie oder Freunde haben. Ist das nicht auch eine Seite, die zu betrachten ist?
Knaus: Natürlich. Viele bleiben in Polen, der Slowakei, Tschechien. Das wird so bleiben. Aber es gingen auch viele nach Irland. Dass so wenige nach Frankreich oder auch Schweden gehen, hat eben auch mit der fehlenden Organisation und Unterstützung dort zu tun. Man sollte das Wohnraumangebot über eine europäische Plattform koordinieren und einer Mutter mit Kind, die in Warschau oder Bukarest ist, kommunizieren, dass in manchen deutschen Bundesländern schon Zelte oder Flughäfen als Unterkünfte herhalten müssen, aber dass sie in Marseille oder Valencia bei einer Familie unterkommen könnten. Aber so etwas müsste man organisieren, Laissez-faire genügt nicht. Seit Sommer 2022 wirkt es so, als würden die Staaten einfach hoffen, irgendeine faire Verteilung würde sich von selbst ergeben, man müsse nichts dazu tun. Aber die Krise ist noch nicht vorbei. Sie könnte sich noch vertiefen.

Aber gerade Länder wie Italien sind immer wieder mit irregulärer Migration konfrontiert. Wollen die sich nicht auch deshalb bei der Ukraine-Frage raushalten?
Knaus: Hier ist es wichtig, die Zahlen einzuordnen: Vergangenes Jahr kamen 160.000 Menschen über das gesamte Mittelmeer nach Europa. Das sind so viele Menschen, wie im letzten März in zwei Tagen aus der Ukraine nach Polen kamen. Wir haben jetzt zwar wieder eine hohe Zahl von Asylanträgen in Deutschland, darunter aber auch viele, die aus anderen EU-Staaten wie Griechenland weiterziehen. Die Größenordnung der irregulären Migration über das Mittelmeer in die EU insgesamt ist mit jener der Flucht aus der Ukraine, nicht zu vergleichen.

Vor dem Hintergrund der illegalen Migration diskutieren wir sehr viel über Abschiebungen. Ist der Fokus falsch?
Knaus: Rückführungen ausreisepflichtiger, abgelehnter Asylwerber sind prinzipiell wichtig, auch für die Akzeptanz des Asylsystems. Aber sie werden nicht für eine wirkliche Entlastung der Kommunen sorgen. Selbst wenn alle 50.000 Menschen, die im vergangenen Jahr in Deutschland in erster Instanz kein Asyl bekommen haben, abgeschoben worden wären, wären das weniger als vier Prozent der Zahl derjenigen, die 2022 in Deutschland Schutz erhalten haben. Ein Asylsystem braucht Abschiebungen, sonst brauchen wir kein Asylsystem. Aber man muss realistisch sein und schauen, was kurzfristig wirklich entlastet. Abschiebungen sind es nicht.

Eines Ihrer Bücher heißt „Welche Grenzen brauchen wir?“ Wie lautet die Antwort?
Knaus: Das legitime und auch moralisch zu rechtfertigende Ziel einer klugen Politik sollte sein, dass Menschen nicht irregulär über Grenzen kommen. Die Herausforderung für Demokratien ist aber, das zu erreichen, ohne Menschenrechte zu verletzen. Wenn man also irreguläre Migration reduzieren will, muss man auf Diplomatie und Migrationsabkommen setzen. 2022 waren die größten Gruppen, die über das Mittelmeer kamen, aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch. Das Versprechen erfolgreicher irregulärer Migration schafft Anreize für manche, meistens junge Männer, sich durch die Sahara, nach Libyen oder aus Tunesien über das Mittelmeer aufzumachen und in lebensgefährliche Boote zu steigen. 2016 war das schlimmste Jahr, da starben 4600 Menschen nur im Zentralen Mittelmeer. Solch tödliche Grenzen dürfen wir nicht akzeptieren.

Gleichzeitig müssen wir legale Wege für Schutzbedürftige, aber auch Fachkräfte schaffen. Gelingt uns das? Die Koalition hatte sich viel vorgenommen in Sachen Migrationsabkommen.
Knaus: Das ist der richtige Weg, aber bis jetzt ist noch nicht viel umgesetzt worden. Erreicht werden soll, dass Länder mit Abkommen Ausreisepflichtige schnell wieder zurücknehmen und damit die irreguläre Migration reduziert wird. Dafür bieten Deutschland und andere EU-Länder geordnete Aufnahme für Flüchtlinge und auch legale Wege der Migration in den Arbeitsmarkt an. Es gibt bereits Modelle, die Deutschland entwickelt hat, die sehr erfolgreich sind, wie die Balkan-Lösung: Menschen aus dem Westbalkan können seit 2016 kommen, wenn sie in Deutschland einen Arbeitsvertrag haben und die Bundesagentur für Arbeit das überprüft hat.

Sind Debatten um „Kleine Paschas“ zuträglich beim Thema Integration?
Knaus: Das hängt davon ab, wer so redet. Wenn es integrierte Migranten tun, kann es helfen. Wirkt es als pauschale Verurteilung von oben herab eher nicht. Schwierig wird es, wenn in der jetzigen Debatte suggeriert wird, es handle sich dabei nur um eine Frage von Zugewanderten.

Braucht es bestimmte Integrationsmaßnahmen?
Knaus: Vor allem braucht es eine klare Kommunikation, dass gewisse Verhaltensweisen in Deutschland im Jahr 2023 nicht akzeptabel sind. Und dann muss man genau hinsehen, wo es solche Probleme gibt. Ich habe einige Jahre in der Türkei gelebt, meine Kinder sind dort in türkische staatliche Schulen gegangen. Da wurde den Lehrern mehr Respekt entgegengebracht als an manchen deutschen Schulen. Klar ist aber, dass man bei Respektlosigkeit handeln muss. Und dann die Lehrer nicht allein lässt.

Dass Kinder syrischer Eltern, die hier geboren sind, kein Deutsch sprechen, beunruhigt Sie also noch nicht?
Knaus: Es ist wichtig, Angebote zur Integration zu machen und diese stringent zu verfolgen. Das heißt: Es braucht eine gute Betreuung der jungen syrischen Kinder in den Schulen, genug Lehrer und auch die notwendigen Ressourcen. Angesichts der vielen Flüchtlingskinder, die dieses Jahr gekommen sind, und dem generellen Personalmangel im Bildungssystem ist das natürlich nicht einfach. In Kindern steckt aber ein unglaubliches Lernpotenzial. Ich sehe keinen Grund, warum die Integration von Syrern in Deutschland nicht genauso erfolgreich sein sollte wie die Integration der Vietnamesen, die in 1970er und 1980er Jahren als Bootsflüchtlinge in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, Schutz fanden.

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