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Zu Besuch in einem improvisierten Schutzraum: „Es ist eine harte Zeit“

29.12.2022 | Stand 17.09.2023, 6:35 Uhr

Der Speisesaal der Schutzunterkunft bietet Ihorv und dessen Töchtern Vika (links) und Ira ein wenig Abwechslung – zumindest räumlich. Am meisten leidet der alleinerziehende Vater unter der erzwungenen Untätigkeit. Erstmals in seinem Leben ist er auf fremde Hilfe angewiesen. −Fotos: Huber

Der Krieg in der Ukraine hat viele zu Schutzsuchenden gemacht. Betroffen sind häufig Frauen, doch auch Männer mussten fliehen. Ihorv (49) ist ein alleinerziehender Vater. Zum Wohle seiner Töchter verließ er seine Heimatstadt Saporischschja.



Als hätte er Sehnsucht nach der großen weiten Welt, prangt vor Ihorvs Zimmer im dritten Stock des improvisierten Schutzraums in Lviv ein Schild mit der Aufschrift Mexiko City. Ob Ihorv – wie alle Bewohner verrät er nur seinen Vornamen – die quirlige Millionen-Metropole in Mittelamerika schon einmal besucht hat? Oder er sie sehen will? Nein. Im Gegenteil. Der stämmige Mann mit gräulichem Bart, schwarzen Haaren und kariertem Holzfäller-Hemd hat nur ein Ziel: Er will mit seinen beiden Töchtern Vika (8) und Ira (12) wieder nach Hause – nach Saporischschja.

Zu dritt auf zehn Quadratmetern

Ihorv ist 49 Jahre alt und alleinerziehend. „Ich vermisse meine Stadt“, sagt er. Als der Krieg immer näher kam, habe er sich für die Flucht entschieden – um seiner Töchter willen. Nun bewohnt er zusammen mit ihnen einen kaum zehn Quadratmeter großen Raum in einem mehrstöckigen, recht marode wirkenden Haus am Rande von Lviv. Drei Betten, blauer Teppichboden, dazwischen ein paar Kisten. Für mehr Individualität bietet die Unterkunft keinen Platz. Wie viele Schutzräume in Lviv, der Großstadt im Westen der Ukraine, ist auch die Unterkunft von IRF, einem Partner der Hilfsorganisation CARE, aus der Not heraus entstanden. Es geht um schnelle Hilfe für möglichst viele Menschen: Da bleibt die Gemütlichkeit oft auf der Strecke.

Dennoch: Ihorv ist dankbar, hier zu sein. Hier bekomme er alles, was er und seine Töchter zum Leben brauchen. Einzig die erzwungene Untätigkeit macht ihm zu schaffen. Er habe immer eigenständig für seine Familie sorgen können. Das betont Ihorv häufig, es scheint ihm wichtig zu sein. Mit der Flucht aus Saporischschja war er plötzlich auf Hilfe angewiesen. Einen Job gebe es für ihn gerade nicht, und auch sonst sei in dem kleinen Raum wenig zu tun. Seit er in Lviv ist, engagiert er sich als Freiwilliger und hilft anderen Schutzsuchenden, um zumindest etwas zurück zu geben, wie er sagt.

Gegen sein Heimweh hilft ihm diese Arbeit aber nur teilweise. In Saporischschja habe es ihnen gefallen. Seine Töchter hätten dort Freunde gehabt, seien zur Schule gegangen. Ihorv habe gearbeitet. In seiner eigenen Wohnung mit Balkon habe er sich wohl gefühlt.

Einschläge kamen immer näher



Doch mit dem russischen Einmarsch wurde auch Saporischschja zum Kriegsgebiet. Bomben. Raketen. Artillerie. Die Einschläge seien immer näher gekommen, erzählt Ihorv. Vor ihrer Flucht habe er mit den Töchtern fast ausschließlich auf dem Gang seiner Wohnung gelebt. Der Grund: Keine Fenster, keine Glassplitter. Weil er wollte, dass seine Töchter überleben, beschloss er zu gehen. Die drei stiegen in einen Evakuierungszug in Richtung Westen.

Eine Herausforderung, besonders für die Kinder. Die achtjährige Vika sitzt neben ihrem Vater auf dem Bett und lauscht aufmerksam seiner Erzählung. Als es um die Flucht geht, ergreift sie selbst das Wort. „Ich vermisse meine Heimat“, sagt sie. „Am schlimmsten war, dass wir die Katze zurücklassen mussten.“ Die fehle ihr ebenso wie die alte Wohnung und ihre Freunde. Ihrer Schwester Ira geht es ähnlich. Mit ihrem Smartphone, dem sie in typischer Teenager-Manier mehr Aufmerksamkeit schenkt als ihrem Vater, hält sie Kontakt zu ihren Freunden. Die Mädchen würden gerne zurück in ihr altes Leben, sogar die Schule vermissen sie. Derzeit lernen sie online, doch eine Dauerlösung sei das nicht.

Als die drei nach ihrer Flucht Lviv erreichten, trugen sie nur das Nötigste am Körper. Zunächst kamen sie in Hotels unter, doch als die Ersparnisse aufgebraucht waren, mussten sie Hilfe organisieren und landeten schließlich in einer Flüchtlingsunterkunft – so wie Hunderttausende andere Schutzsuchende aus dem Osten.

Wie so viele andere hatten auch die drei Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen. Hier sprechen die Menschen Ukrainisch, sagt Ihorv. In Saporischschja dagegen hätten die meisten Russisch gesprochen. Generell hätten die Menschen in der Ostukraine viele Gemeinsamkeiten mit den Russen. Ihorv wuchs in der Sowjetunion auf, lebte als Student einige Zeit in Moskau. Er hat Verwandte in Russland. Dann fingen die Nachbarn an, mit Raketen und Drohnen auf seine Heimat zu schießen. Ist dort nur noch Wut, wo einst Sympathien waren? Ihorv ist wütend, doch nicht auf die Soldaten. An dem Krieg sei Putin schuld. Seine Propaganda verbreite Fake-Infos und verblende die Soldaten. Die tun ihm sogar leid, sagt Ihorv.

Blackouts sind das größte Problem

In dem Schutzraum im dritten Stock wohnen derzeit rund 50 Menschen. Das größte Problem seien die Blackouts, sagt Leiterin Oksana Opara (30). Seit Kriegsbeginn arbeiten sie und ihr Team fieberhaft daran, den ankommenden Menschen zu helfen. Ihr Motto: „Wir diskriminieren niemanden.“ Auch deshalb sind die Geflüchteten hier bunt gemischt. Menschen mit bewegter Vergangenheit leben hier. Süchtige. Sexarbeiter. HIV-Patienten. Doch auch alleinerziehende Väter mit ihren Kindern verbergen sich hinter den Türen mit den exotischen Städte- und Landesnamen.

In Texas, zumindest ist das der Name seines Zimmers, lebt Andre (43) mit seiner elfjährigen Tochter Julia. Sie stammen aus Nikopol und haben eine ähnliche Fluchtgeschichte wie Ihorv und dessen Töchter. Auch sie wollen wieder zurück in die Heimat, auch sie haben lange gebraucht, um sich an Lviv zu gewöhnen. Andre ist wortkarg. Auf Fragen antwortet er meist mit nur einem Wort. Nur eines sagt er entschlossen: „Es ist eine harte Zeit.“

Ein Satz, den wohl auch Ihorv unterschreiben würde. Die Familie will zurück nach Saporischschja, sobald es die Kriegslage zulässt. Er will wieder selbst sein Leben bestreiten und nicht mehr von Hilfe abhängig sein. Und was wollen die Kinder? „Make-up und Schokolade“, sagt Vika und grinst. Sie habe bald Geburtstag und freue sich schon auf die Geschenke. Dann überlegt sie. Noch mehr als Make-up und Schokolade wolle sie dann doch wieder heim. Heim nach Saporischschja.

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