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Wirtschaftsweise Ulrike Malmedier: „EZB sollte helfen, Nachfrageschwäche in den Griff zu bekommen“

Rat zu transparenterem Zuwanderungsrecht und mehr Weiterbildung in zukunftsorientierten Berufszweigen

03.06.2023 | Stand 15.09.2023, 6:09 Uhr

Ulrike Malmendier ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. −F.: von Jutrczenka, dpa

Berlin. Ökonomin Ulrike Malmendier, Mitglied der „Fünf Wirtschaftsweisen“ und Professorin an der Berkley-Universität im US-Bundesstaat Kalifornien, sieht Deutschland nicht auf dem Weg zum kranken Mann Europas.

Ist es gravierend, dass Deutschland nun doch in eine technische Rezession abgerutscht ist?
Ulrike Malmendier: Ich mache mir derzeit recht wenig Sorgen um die deutsche Wirtschaft, und dafür gibt es zwei Gründe: Das BIP wird in Deutschland immer über zwei Seiten berechnet – die Entstehungsseite, also die Wertschöpfung, und die Verwendungsseite, also die Ausgaben. Einen Rückgang des BIP sehen wir ausschließlich auf der Ausgabenseite. Dieser ist lediglich durch die deutlich gesunkenen Staatsausgaben bedingt, etwa auslaufende Pandemieausgaben. Das ist per se keine schlechte Nachricht. Auf der Verwendungsseite sieht es besser aus. Die Wertschöpfung ist nämlich im letzten Quartal gestiegen, vor allem da das Baugewerbe und das verarbeitende Gewerbe gewachsen sind.

Ist Deutschland auf dem Weg zum kranken Mann Europas?
Malmendier: Ganz sicher nicht, das ist eine technische Rezession. Aber es gibt schon ein paar Entwicklungen, die mir Bauchschmerzen machen. Erstens beobachten wir derzeit eine gewisse Nachfrageschwäche, wohl zu einem guten Teil wegen der anhaltenden Belastung durch die Inflation. Ich hoffe sehr, dass die EZB weiter dazu beiträgt, diese in den Griff zu bekommen. Zweitens werden die nachhaltig höheren Energiepreise zu Verschiebungen in der Industrieproduktion führen. Ich hoffe, dass mehr zukunftsorientierte Industrien mit langfristiger Perspektive in Deutschland unterstützt werden, anstatt dass die Politik der Versuchung nachgibt, den Zustand um jeden Preis erhalten zu wollen.

Was sollte die Politik tun, um das Land wieder auf einen Wachstumskurs zu bringen?
Malmendier: Zusätzlich zur zielgerichteten Unterstützung von zukunftsfähigen Geschäftsmodellen beim Strukturwandel liegt mir ein Thema sehr am Herzen: Die Fachkräftesicherung. Deutschland braucht dringend eine Umorientierung der Ausbildung und der beruflichen Weiterbildung auf zukunftsorientierte Berufszweige. Der traditionelle Zuckerbrot-und-Peitsche-Ansatz, also mehr finanzielle Unterstützung für Weiterbildung und weniger Absicherung ohne Weiterbildung, reicht nicht aus. Geeignete Ansätze können hier helfen, um Menschen zu motivieren und die Hürden zu senken. Zugleich brauchen wir deutlich mehr Zuwanderung. Hier kann die Politik nicht nur mit einem vereinfachten und transparenteren Zuwanderungsrecht helfen, sondern auch mit Öffentlichkeitsarbeit, die den hohen Bedarf aufzeigt und damit die Akzeptanz der Zuwanderer stärkt. Da hinken wir in Deutschland noch enorm hinterher.

Trägt Berlin eine Mitschuld an der rezessiven Entwicklung?
Malmendier: Nein. Diese Entwicklungen sind vor allem dem Energiepreisschock zuzuschreiben. Die fiskalischen Stützungsmaßnahmen, wie etwa die Energiepreisbremsen, werden den privaten Konsum sicherlich gestützt haben, auch wenn ich mir zielgerichtetere Maßnahmen und weniger Gießkannenprinzip gewünscht hätte.
Welche Rolle spielen die höheren EZB-Leitzinsen für die Minusraten in der Wirtschaft?
Malmendier: Es ist in der Tat so, dass sich geldpolitische Straffungsmaßnahmen auf die Wirtschaftstätigkeit auswirken – vielleicht sogar schneller als auf die Inflation. Die EZB selber geht in ihrem Wirtschaftsbericht vom März 2023 von besonders starker dämpfender Wirkung in diesem Jahr aus. Hier in Deutschland sehen wir das zum Beispiel beim Wohnungsbau. Nach den eher positiven Entwicklungen im Bau im letzten Quartal, vor allem dank des milden Winters, dürfte der Bausektor für den Rest des Jahres stark rückläufig sein.