Zum zweiten Mal in Folge scheidet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nach der Vorrunde einer Weltmeisterschaft aus. Eineinhalb Jahre vor der EM im eigenen Land ein beispielloses Desaster für den DFB. Ein Kommentar unseres Redakteurs Alexander Augustin.
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Am Ende brachte Thomas Müller sogar noch das Kunststück fertig zurückzutreten, ohne zurückzutreten. Er richtete seinen Blick in die Kamera und setzte zu einer Vielleicht-vielleicht-auch-nicht-Abschiedsrede an. Ein enormer Genuss sei die Zeit in der DFB-Elf gewesen, er habe mit Liebe gespielt. Worte, die man zum Abschied eben so sagt. Aber nein, ein Abschied sei das noch nicht, er müsse sich darüber erst Gedanken machen. Müller ab.
Es war der absurde deutsche Schlusspunkt einer WM voller Halbscharigkeiten, um in Müllers bajuwarischem Duktus zu bleiben. Fußballerisch halbgar, kommunikativ halbgar, sportpolitisch halbgar. Bloß nicht anecken, selbst im Protest.
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Dass die Mannschaft am Ende auch wegen der One-Love-Binden-Diskussion vor dem ersten Gruppenspiel ausgeschieden ist, dürfen sich die Funktionäre des DFB auf die Fahnen schreiben. Erst preschten sie vor, sie wollten sich von der FIFA nichts vorschreiben lassen, ein Zeichen setzen. Als der Weltverband dann mit Sanktionen drohte: Rückzieher. Ein Protest wie der eines bockigen, schlecht erzogenen Kindes.
Die Last des Kommunizieren-Müssens
In der Mannschaft sorgte der Aufstand, der keiner war, für unnötige Diskussionen und damit Ablenkung vor dem letztlich verlorenen ersten Spiel gegen Japan. Millionen warteten auf ein Statement, das sich die DFB-Oberen zuvor nicht abringen konnten. Es war die Last des Kommunizieren-Müssens, das die Vorbereitung hemmte und die Mannschaft spaltete. Ein Zustand, den die deutsche Elf nie ganz ablegen konnte.
Doch das Ausscheiden an einer letztlich nicht vorhandenen Binde festzumachen, wäre viel zu einfach. Für das Sportliche tragen immer noch Hansi Flick und seine Spieler die Verantwortung. Profis dürfen sich von externen Diskussionen nicht derart beeinflussen lassen – außer sie wandeln sie in eine Jetzt-erst-recht-Mentalität um. Taten sie nicht. Stattdessen spielten sie Fußball wie Thomas Müller Rücktritte erklärt: halbgar.
Defensiv leistete sich die Hintermannschaft teils haarsträubende Fehler und brachte damit sogar den bis dato gnadenlos unterlegenen Außenseiter Costa Rica zurück ins Spiel (und sogar beinahe ins Achtelfinale). Mit aufreizender Inkonsequenz in der Rückwärtsbewegung und im Spiel gegen den Ball brachten sich Rüdiger, Süle und Co. immer wieder in Bedrängnis. Dabei saß mit Matthias Ginter ein Innenverteidiger auf der Bank, der beim SC Freiburg in der Bundesliga die Kompromisslosigkeit verkörpert wie kein anderer. Ob es der aus dem Kader gestrichene Mats Hummels viel schlechter gemacht hätte als seine Kollegen, darf auch bezweifelt werden.
Ein Chaos der Zuständigkeiten
Und vorne? Zieht sich das Halbgare durch. Immer wieder betonen Spieler und Trainer die große Qualität der deutschen Offensive. Die ist vorhanden, kein Zweifel. Nur sollten sich alle Beteiligten Gedanken machen, wie sie diese auf den Platz bringen. Flick hat es nicht geschafft, den hochveranlagten Akteuren klare Anforderungsprofile mit auf den Platz zu geben. So gingen Musiala, Gnabry und Co. in einem Chaos der Zuständigkeiten unter. Das dazu Thomas Müller, der personifizierte Halbraum, ebenfalls über weite Strecken auf dem Rasen stand, erwies sich schnell als Hemmschuh. Ein so dynamisches, aber zielloses Mittelfeld braucht einen klaren Orientierungspunkt, wie Robert Lewandowski es bei den Bayern war. Dass Niclas Füllkrug kein Weltfußballer mehr werden wird, ist klar. Aber eine starke Neun für diese deutsche Nationalmannschaft ist er gerade, das hat er bei seinen (Zu-)Kurz-Einsätzen gezeigt.
Flick setzte offensiv lieber auf den vermeintlich sicheren Bayern-Block, ohne aber zu bedenken, dass dieser auch in der Bundesliga Probleme hatte mit dem Toreschießen, wenn ein klassischer Zielspieler im Strafraum fehlte. Mit seiner Prinzipientreue – oder besser: Sturheit – machte Flick den gleichen Fehler wie Vorgänger Jogi Löw.
Dennoch wird Hansi Flick wohl weitermachen dürfen. Er will das auch, wie er nach dem Spiel betonte. Doch er wird sein erstes Turnier-Desaster als Nationalcoach schnell aufarbeiten müssen. Schon in eineinhalb Jahren steht die Heim-EM an. Die drängenden Fragen müssen bis dahin beantwortet werden – im Verband und in der Mannschaft. 2024 darf es keine Kompromisse mehr geben.
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