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„Elendig schlecht“: Hitzige Debatten in England – über Bellingham und Southgates seltsame Strategie

01.07.2024 |

Gut gelaunt präsentierte sich Jude Bellingham am Montag im Training. Allerdings ermittelt die UEFA gegen den England-Star. − Foto: afp

Nach seinem rettenden Traumtor schoss Jude Bellingham gegen die Kritiker – weit weniger elegant, aber genauso treffsicher. „Für England zu spielen, ist ein schönes Gefühl, aber der Druck ist groß, und die Leute reden eine Menge Müll“, sagte der Jungstar, nachdem er mit einem Fallrückzieher in letzter Minute das frühe EM-Aus des Titelaspiranten verhindert hatte, und fügte süffisant an: „Es ist schön, dass man ihnen ein bisschen was zurückgeben kann.“

Nach seinem spektakulären Geniestreich hatte Bellingham beim Torjubel geschrien: „Wer sonst?“ Das, erklärte er nach dem glücklichen 2:1 (1:1, 0:1) gegen die Slowakei durch Harry Kanes Kopfballtreffer in der Verlängerung, sei „eine Botschaft an ein paar Leute“ gewesen. Auf Nachfrage ergänzte der Champions-League-Sieger von Real Madrid: „Da häuft sich einiges an. Es ist nicht schön, das zu hören.“

UEFAS kündigt Ermittlungen an



England ist zwar vorerst dem K.o.-Schlag ausgewichen, doch die hitzigen Diskussionen gehen weiter. Am Montag kündigte zudem die UEFA Ermittlungen gegen Bellingham wegen eines „möglichen Verstoßes gegen die Grundregeln des guten Benehmens“ an. Es geht dabei offenbar um eine obszöne Geste nach dem Tor gegenüber der slowakischen Bank. Das sei nur ein Scherz mit Freunden auf der Tribüne gewesen, behauptete der Jungstar bei X.

Die Kritik an Bellingham, der nach starkem EM-Start in ein Leistungsloch gefallen war, ist vorerst verstummt. Aber der umstrittene Teammanager Gareth Southgate, der eine Woche weiter arbeiten darf, bleibt im Fokus – weil die späten Tore die erneut erschreckend schwache Leistung seiner Milliardentruppe nur notdürftig übertünchten. Ohne Plan, ohne Ideen, mit wenig Tempo und noch weniger Mut ließ das teuerste Team der EURO mit einem geschätzten Kadermarktwert von 1,5 Milliarden Euro die 30.000 Landsleute in der Schalker Arena und Millionen Fans daheim lange verzweifeln.

Southgate, vor allem in der Kritik, weil er keine Lösung für die brach liegende linke Seite findet, verteidigte sein starrsinniges Festhalten an immer denselben Spielern und derselben Taktik an einem kuriosen Beispiel. Er habe eine Viertelstunde vor Schluss der regulären Spielzeit darüber nachgedacht, Bellingham und Kane auszuwechseln, weil sie „völlig erschöpft“ waren. „Doch du weißt, dass sie solche Sachen machen können, wie sie gemacht haben“, sagte der 53-Jährige, „deshalb hältst du an ihnen fest.“ Eine Selbstverständlichkeit, die wohl kein Trainer der Welt wenige Minuten vor dem drohenden Aus infrage stellen würde.

Kritik am Trainer



Welcher Sturm ihn hinweggefegt hätte, wenn er die späteren Matchwinner tatsächlich so früh vom Feld genommen hätte, ist leicht vorzustellen. Denn auch so, obwohl er das Viertelfinale gegen die Schweiz erreicht hat, werden die Kritiker nicht leiser. „Es war wieder einmal schwer mitanzuschauen. Es war fürchterlich. In fast 400 Minuten in diesem Turnier haben wir bis auf eine halbe Stunde nicht gut gespielt“, schrieb Ex-Torjäger Alan Shearer in seiner BBC-Kolumne und forderte: „Southgate muss Wechsel vornehmen.“

Irlands Fußball-Ikone Roy Keane war „schockiert“, dass Southgate nicht schon zur Halbzeit wechselte, „er könnte seinen Job verlieren, wenn er nichts macht.“ Und Ex-Nationalspieler Gary Neville fand es gar „illegal“, dass Trent Alexander-Arnold vom FC Liverpool nicht spielte, den selbst Jürgen Klopp als „besten Rechtsverteidiger der Welt“ schon auf dessen Stammposition gefordert hatte.

„Wir waren elendig schlecht und zwar in allen vier Spielen“, sagte Neville bei ITV. Er kann sich nicht vorstellen, dass die bisherigen Leistungen für eine weitere Runde reichen. „Wir müssen jetzt dramatisch etwas verändern. Ich habe mit Gareth Southgate gespielt und kenne ihn. Er ist ein großartiger Kerl und verfügt über enorme Integrität. Aber er wird erkennen, dass er verdammt nah am Abgrund war.“

„Wir haben Probleme mit der Balance“, gab Southgate zu und fügte trotzig an: „Aber wir finden irgendwie einen Weg. Wir sind immer noch drin.“ Wie lange noch, ist die große Frage. Favorit ist England am Samstag (18.00 Uhr) gegen die Schweiz jedenfalls nicht - trotz Weltklassespielern wie Bellingham und Kane.

Ein Kommentar zum Thema

Wie kann eine Mannschaft mit solchen Spielern einen solch fürchterlichen Fußball spielen? England hat das teuerste Team der EM und schafft es nicht, seine Qualitäten aufs Feld zu bringen. Da stehen sich im offensiven Mittelfeld zwei Zehner auf den Füßen, zudem lässt sich der Mittelstürmer immer wieder in den ohnehin überfüllten Raum fallen.

Auf der linken Abwehrseite müht sich ein Rechtsverteidiger, der auch noch die Lücke auf dem linken Flügel stopfen soll. Zwischen den Innenverteidigern, die ratlos den Ball hin und her schieben, und dem Gedränge in der offensiven Zentrale klafft ein riesiges Loch. Matchplan? Tempo? Mut zur Offensive? Frühes Attackieren des Gegners? Gar ein Plan B? Alles Fehlanzeige.

Das soll alles sein, was man aus einem Kader, der 1,5 Milliarden Euro wert sein soll, herausholen kann? Dass Gareth Southgate im Zentrum der Kritik steht, ist kein Wunder. Ein Teammanager, der mit Spielern wie Bellingham, Kane, Foden, Saka oder Rice nur Langeweile produziert, hat seinen Beruf verfehlt.

Doch alles auf diesen Trainer der traurigen Gestalt zu schieben, ist zu einfach. Dass ausgerechnet Jude Bellingham und Harry Kane das frühe und blamable Aus verhinderten, ist vielleicht ein Hinweis. Die beiden Weltklassespieler, die nicht in der Premier League kicken, retten mit zwei Einzelaktionen ihre hilflosen und arroganten Teamkollegen aus der besten Liga der Welt. Bei all dem Brimborium daheim, den Milliarden, die erwirtschaftet und ausgeschüttet werden, den ständigen Superlativen, mit denen sie überhäuft werden, scheinen nicht wenige zur Selbstüberschätzung zu neigen.

Beinahe hätte die Milliardentruppe ein Spieler aus dem Turnier gekegelt, der nie in einer der großen europäischen Ligen gespielt und nie auch nur einen Cent Ablöse gekostet hat. Es wäre das passende Ende dieser unglaublichen Geschichte von Hybris und Inkompetenz gewesen.

So steht England mit Southgate im Viertelfinale. Auf die Turnierfavoriten könnten Bellingham, Kane und Co. erst im Endspiel treffen. Wer weiß, vielleicht zeigen sie ja dann ihre Klasse und ihr Teammanager sein taktisches Geschick. Guter Witz.

− sid/red

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