Turnier mit Schattenseiten
Als Journalist bei der WM 2014 in Brasilien: Rauschhaft und fast surreal – aber auch beklemmend

13.07.2024 | Stand 14.07.2024, 16:57 Uhr |

Entspannter Plausch am Pool im Medienzentrum am Campo Bahia (von links): Heinz Gläser, Klaus Eder und Christian Huhn. − Foto: Thomas Hain

Natürlich standen auch für uns Journalisten die Spiele der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien im Mittelpunkt, das immer noch surreal anmutende 7:1 gegen Gastgeber Brasilien und die rauschhaften Emotionen nach dem Titelgewinn gegen Argentinien. Aber oft prägen sich in fünf WM-Wochen auch diverse Begebenheiten am Rande ein.



Der Rhythmus Brasiliens: DFB-Teammanager Oliver Bierhoff hatte ihn gleich nach unserer Ankunft als maßgeblich für die Gäste aus Übersee beschrieben. Sie müssten diesen Rhythmus während der Fußball-WM annehmen, einatmen, aufsaugen, verinnerlichen, wie auch immer.

Falls Manoel den Rhythmus dieses Riesenlandes verkörperte, musste einem um Brasilien ein bisschen bange sein. Sein täglich Brot war die Hektik. Für den deutschen Medientross – mit mir als dem Abgesandten aus Regensburg – war der damals 53-Jährige eines der Gesichter des Turniers 2014.

Mittlerweile legendäres Luxusressort

Tagein, tagaus und auch zu nachtschlafender Zeit versah er seinen Dienst an der Mündung des Rio João de Tiba. Dort verkehrten die Fähren zwischen Santa Cruz Cabrália und dem deutschen WM-Quartier in Santo André, wo eigens das mittlerweile legendäre Luxusressort Campo Bahia aus dem Boden gestampft worden war.

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Flink, klein, drahtig, spindeldürr, bekleidet mit verwaschenen Shirts, Shorts und Badelatschen: Fährmann Manoel war das Mädchen für fast alles. Er hetzte vom Bug zum Heck und zurück, wies die Autos Stoßstange an Stoßstange ein, schloss die Absperrgitter und vertäute die rostigen Kähne. Die Sonne hatte sein Gesicht gegerbt, er sah aus wie 73, nicht wie 53. Sprach man Manoel an, reckte er den Daumen und stieß das in Brasilien unvermeidliche „Tudo bem!“ aus. Alles gut also, gut zu wissen. Sein Lächeln entblößte ein Gebiss, in das Jahrzehnte mangelnder Zahnhygiene große Schneisen geschlagen hatten.

Milliardenschwere Investitionen

Tudo bem? Viele Brasilianer waren nicht in der Lage, dem Rhythmus des zuvor kurzzeitig prosperierenden, aber damals wirtschaftlich darbenden Schwellenlandes zu folgen, das für das sportliche Großereignis milliardenschwere Investitionen geschultert hat. Und die Olympischen Spiele 2016 standen ja auch schon vor der Tür.

Dutzende Obdachlose kauerten jeden Morgen in Decken gehüllt vor unserem „O.k.“-Medienhotel an der Rua Senador Dantas in Rio de Janeiro. Um 6 Uhr, wenn die pulsierende Millionenmetropole wieder zum Leben erwachte, prägten nicht unter den Arm geklemmte Aktentaschen, sondern Pappkartons das Straßenbild. Ausgemergelte Gestalten schlurften den Gehweg entlang und zupften an den Decken der Leidensgenossen – in der Hoffnung, dass diese noch Lebenszeichen von sich geben.

Sechs Metrostationen weiter an der weltberühmten Copacabana ein ähnliches Bild: Obdachlose schlugen ihr notdürftiges Quartier unter Palmen oder entlang der Absperrungen auf. Ihr Rückzugsraum war kleiner als sonst, denn der Fußball-Weltverband Fifa hatte einen großen Teil des Terrains unter dem Zuckerhut für eines seiner sterilen Fanfeste okkupiert. Die hochkommerzielle Trutzburg ragte so weit in den Himmel auf, dass man auf dem Strand der Copacabana stehen konnte, ohne den Atlantik dahinter zu sehen.

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Ewig in Erinnerung bleibt uns derweil der Trip zum letzten Vorrundenspiel gegen die USA in Recife, nach dem wir buchstäblich zwei Tage strandeten. Sintflutartiger Regen hatte die Straßen hüfthoch unter Wasser gesetzt. Nach der Partie gab es für die meisten kein Fortkommen. Nur einer der vier Flieger des DFB-Trosses, derjenige mit den Schützlingen von Bundestrainer Joachim Löw an Bord, hob zurück zum Flughafen in Porto Seguro ab.

Passwort „Kramer“ in der Notunterkunft

Die Zurückgebliebenen bezogen zu mitternächtlicher Stunde quasi als „Notquartier“ das Hotel, in dem die deutsche Auswahl die Nacht vor der Partie verbracht hatte. Als ich mich an der Rezeption nach dem Passwort für das WLAN erkundigte, lautete es „Kramer“. Ich hatte also das Zimmer erwischt, in dem der Mittelfeldspieler sein Haupt gebettet hatte.

Eine tollkühne Kollegenschar mietete in ihrer Verzweiflung einen Kleinbus an und machte sich auf vier Rädern auf den Weg zurück. Sie benötigten für die rund 1400 Kilometer zwei Tage und trafen fast zeitgleich mit uns wieder am Campo Bahia ein. Denn merke: Brasiliens Landstraßen zeichnen sich nicht nur durch abenteuerliche Bodenschwellen, sondern auch durch Schlaglöcher aus, in denen ein Mitteleuropäer ebenfalls hüfthoch verschwinden kann.

Das unweit des deutschen Quartiers gelegene Porto Seguro, in dem wir logierten, bezauberte übrigens mit kilometerlangen Sandstränden, verströmte aber gemäß der Jahreszeit südlich des Äquators den Charme von Rimini im Winter.

Kopie des Pokals hoch über den Wolken

Schließlich der Rückflug von Rio nach Berlin an Bord der „Fanhansa“-Maschine der Lufthansa. Hoch über den Wolken erschien der damalige DFB-Pressesprecher Jens Grittner mit dem goldenen WM-Pokal in den Händen. Gierig griffen wir nach der Trophäe, im Akkord wurden Erinnerungsfotos geschossen.

Erst später erfuhren wir, dass es sich um eine Kopie handelte, jenen Pokal also, den die übernächtigten WM-Helden beim triumphalen Empfang am Brandenburger Tor den Massen präsentierten. Das Original hatte die Fifa dem frischgebackenen Weltmeister bereits in der Kabine des Fußballtempels Maracanã wieder entwendet. Aber was soll’s: Tudo bem!

− mgb

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