Grafik zeigt überschwemmte Ortschaften
Wasserstand in ukrainischen Flutgebieten nach Staudamm-Zerstörung steigt weiter

07.06.2023 | Stand 07.06.2023, 13:51 Uhr

Cherson: Anwohner tragen ihr Hab und Gut bei der Evakuierung aus einem überfluteten Viertel in Cherson. −Foto: Libkos/AP/dpa

Nach der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine ist am Mittwoch der Wasserstand in den flussabwärts des Damms gelegenen Flutgebieten am Ufer des Dnipro weiter angestiegen.



Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, erklärte der stellvertretende Kabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Kuleba. Das Wasser habe dort einen Stand von 3,5 Metern erreicht, mehr als 1000 Häuser seien überflutet. USA und Großbritannien erklärten unterdessen, sie hätten noch keine Beweise dafür, wer für die Zerstörung des Staudamms verantwortlich sei.

Grafik zeigt überschwemmte Ortschaften am Dnipro





Laut Angaben der russischen Besatzer sind im von ihnen kontrollierten Teil des Gebiets Cherson bis zu 40.000 Menschen von den schweren Überschwemmungen betroffen. „Nach vorläufigen Prognosen sind es zwischen 22.000 und 40.000“, sagte der von Moskau in Cherson eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Saldo am Mittwochvormittag im russischen Staatsfernsehen auf die Frage, wie viele Menschen im Katastrophengebiet lebten.

100 Menschen von Wasser eingeschlossen



Der Besatzungschef der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sagte zudem, dass dort rund 100 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen seien und gerettet werden müssten. Sieben Anwohner werden den Angaben zufolge derzeit vermisst, rund 900 sollen angeblich schon in Sicherheit gebracht worden sein. Leontjew sprach zudem von mehreren komplett oder teilweise überfluteten Orten. „Der Ort Korsunka steht - mit Ausnahme der letzten Straße - komplett unter Wasser“, sagte er im russischen Fernsehen.

Russische Besatzer rufen Notstand aus



Am Dienstag hatte bereits die Ukraine mitgeteilt, dass auf der durch ihre Truppen befreiten rechten Seite des Flusses Dnipro rund 17.000 Menschen ihre Häuser verlassen müssten. Die russischen Besatzer hatten sich mit Zahlen zunächst noch bedeckt gehalten. Mittlerweile haben sie laut staatlicher russischer Nachrichtenagentur Tass zudem den Notstand im von ihnen okkupierten Teil des Gebiets Cherson ausgerufen.

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Der in russisch besetztem ukrainischen Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Dnipro war bei einer Explosion in der Nacht zum Dienstag teilweise zerstört worden, große Mengen Wasser traten aus. Zehntausende Menschen wurden am Dienstag auf der ukrainischen und der von Russland besetzten Seite des Flusses Dnipro in Sicherheit gebracht. Die USA warnten vor „womöglich vielen Toten“, die UNO sprach von humanitären Folgen für „hunderttausende Menschen“.

Ukrainische Videografik zeigt potenzielles Ausmaß



Der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschtschenko, teilte auf Twitter eine animierte Grafik, die das potenzielle Ausmaß der Zerstörung des Staudammes zeigen soll.



Dazu schreibt er: „Viele Menschen werden ihre Häuser verlieren, wenn Siedlungen überflutet werden.“ Zudem seien die Überschwemmungen eine „ökologische Katastrophe“: „Zehntausende Tonnen Fische und eine einzigartige Bisphäre werden sterben“, so Geraschtschenko. Auch die Nester von Millionen Vögeln seien überschwemmt worden. Der Berater befürchtet zudem, dass der Nord-Krim-Kanal austrocknen werde und den Bewohnern im Süden und in der Krim das Trinkwasser ausgehen könnte.

Ministerium: Felder könnten nach Staudamm-Zerstörung Wüsten werden



Nach der Explosion des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine rechnet das ukrainische Agrarministerium ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium am Dienstagabend auf seiner Webseite mit. Detaillierte Informationen sollen demnach in den kommenden Tagen bekannt gegeben werden, wenn sich das Ministerium ein genaues Bild von der Lage gemacht habe.

Zudem werde „die von Menschen verursachte Katastrophe die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen“, so das Ministerium. „Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten“, hieß es weiter.

Moskau und Kiew beschuldigen sich gegenseitig



Die Ukraine und Russland machten einander gegenseitig für die Zerstörung des Damms verantwortlich. Die USA und Großbritannien äußerten sich bei der Bewertung des Dammbruchs unterdessen zurückhaltend. In Washington sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, die USA könnten die Lage noch nicht abschließend bewerten. „Wir versuchen weiter Informationen zu sammeln und mit den Ukrainern zu sprechen“, sagte er.

Britische Geheimdienste untersuchen nach Angaben von Premierminister Rishi Sunak die Gründe für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Er könne derzeit „nicht sagen, ob Vorsatz dahinter steckt“, sagte Sunak vor seiner Abreise zu einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Es sei „zu früh“, um ein „endgültiges Urteil“ zu dem Dammbruch abzugeben, sagte Sunak weiter.

Sunak nannte die Zerstörung des Staudamms den „größten Angriff auf zivile Infrastruktur“ seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Sollte Moskau hierfür verantwortlich sein, wäre dies laut dem britischen Premier ein Beleg für „neue Tiefpunkte russischer Aggression“.

Scholz: „Neue Dimension“ im Krieg



Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „neuen Dimension“ im Krieg. Die Beschädigung sei etwas, „das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt“, sagte Scholz in Berlin. Bundesaußenministern Annalena Baerbock (Grüne) warf Russland vor, einen „Staudamm in der Nähe eines Kernkraftwerks als Kriegswaffe“ zu missbrauchen.



Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte den Angriff scharf. Die Zerstörung gefährde tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb er im Kurzbotschaftendienst Twitter. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb: „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen.“

− afp/dpa