Professor Michel Friedman (68), Jurist, Philosoph und Buchautor, beschreibt die deutsche Gesellschaft als „gereizt“. Am Mittwoch, 6. November, spricht Friedman im Passauer Medienzentrum bei MENSCHEN in EUROPA über die Gesellschaft und Werte im Wandel. Vorab erklärt er im Interview mit der Mediengruppe Bayern, welche grundsätzlichen Fragen sich der Westen stellen muss.
Die AfD befindet sich auf einem Höhenflug, Debatten über Klimaschutz und Migration werden immer aggressiver geführt und Gewalt gegen Polizisten und Kommunalpolitiker nimmt zu. In welchem Zustand befindet sich die deutsche Gesellschaft?
Michel Friedman: In einem gereizten, aufgeheizten und aufgepumpten Zustand. Der Dialog wird immer mehr ersetzt durch Monolog. Das ist auch ein Ergebnis der Sozialen Medien, die eine der großen Herausforderungen der menschlichen Kommunikation geworden sind.
Inwiefern?
Friedman: In den Sozialen Medien werden Lügen statt Tatsachen verbreitet. Ihre Aufgeregtheit, ihre Mega-Geschwindigkeit, ihre Algorithmen, die weitere Dramatisierungen und Vereinfachungen zum Ziel haben, führen dazu, dass Diskurse, die so nötig sind wie schon seit langem nicht mehr, nicht umgesetzt werden können. Das ist für eine Gesellschaft und ihre Streitkultur destruktiv. Die Sozialen Medien sind der Brandbeschleuniger des Problems, dass sich unsere Gesellschaft viel zu lange im Schlaraffenland ausgeruht hat und jetzt erschrocken zur Kenntnis nimmt, dass sich die Welt weiterentwickelt und ein Teil der Gesellschaft stehen geblieben ist.
Wie konnte es so weit kommen?
Friedman: Die neoliberale Zeit, in der die Ökonomisierung auch der Werte an vorderster Stelle stand, ist gleichzeitig eine Zeit der mangelnden Streit- und Diskussionsbereitschaft gewesen. Sich anzustrengen auch in gesellschaftspolitischen Fragen und Prozessen war nicht in Mode. Die Große Koalition reflektierte jahrelang diese Gemütlichkeit des Alltages. Währenddessen haben einerseits diejenigen, die eine autoritäre, antidemokratische Werteordnung einrichten wollen, leidenschaftlich ihre Arbeit gemacht. Andererseits sind die Fortschrittsentwicklungen des 21. Jahrhunderts an Deutschland vorbeigegangen.
Also ist unser Problem, dass wir satt geworden sind?
Friedman: Man kann sagen, dass bis vor kurzem Demokraten in Teilen gelangweilt, dekadent und gleichgültig geworden sind. Eine Demokratie kann sich aber nur mit einer aufgeweckten Leidenschaft selbst erneuern.
In anderen europäischen Ländern sehen wir eine ähnliche Entwicklung, in den USA ist die Gesellschaft noch zerrissener. Ist die Zukunft der liberalen Demokratie gefährdet?
Friedman: Eindeutig, ja. Das sage ich in aller Ernsthaftigkeit. Die nächsten Wahlen in Amerika und Frankreich könnten, falls die Rechtspopulisten gewinnen, die Erfüllung des Wunsches der Präsidenten Xi Jinping und Wladimir Putin bedeuten, nämlich dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der totalitären Staaten wird.
Was waren unsere geostrategischen Fehler?
Friedman: Deutschland und die Europäische Union sind einer Selbstillusion verfallen. Sie haben an den Satz „Krieg ist kein Mittel der Politik“ geglaubt, obwohl jeder, der das gesagt hat, in einer Zeit lebte, in der Krieg ein Mittel der Politik war – auch in Europa. Wir wollten China nicht als geopolitischen Hauptspieler wahrnehmen. Und als Russland und China gesagt haben, dass sie eine neue Weltordnung anstreben, haben wir die Dramatik der Botschaft nicht verstanden.
Was kann man gegen eine so gereizte Gesellschaft wie in Deutschland unternehmen?
Friedman: Wir müssen einige Grundsätze wieder verhandeln. Wollen wir eine aufgeklärte, eine humanistische Welt haben, bei der die Menschenrechte im Zentrum stehen? Ist die Würde des Menschen für alle Menschen unantastbar? Oder folgen wir denen, die selbst entscheiden wollen, für wen dieses Recht gilt? Wir müssen auch grundsätzlich klären, ob wir einer digitalen Welt, in der die Lüge die Wahrheit übernimmt, hilflos und passiv gegenüberstehen wollen. Oder reißen wir die Regulationsmöglichkeiten, die es bei dieser existenziellen Frage gibt, an uns?
Was ist, wenn wir keine oder die falschen Antworten finden?
Friedman: Es geht um die Zukunft der Demokratie. Wir müssen über die Fragen der Gerechtigkeit und Sicherheit im demokratischen Rahmen des 21. Jahrhunderts neu verhandeln. Erledigen wir unsere Hausaufgaben nicht, werden wir zu Recht dafür bestraft. Die nächsten Generationen werden das Glück der Freiheit nicht mehr genießen können, weil wir nicht den Preis der Verantwortung zahlen wollten.
Blicken Sie zuversichtlich in die Zukunft?
Friedman: Ich bin ein verzweifelter Optimist.
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