Videografik zeigt Ausmaß
Staudamm-Zerstörung: Hunderttausende Ukrainer laut EU in Gefahr

06.06.2023 | Stand 07.06.2023, 7:20 Uhr

Betroffen seien etwa 80 Siedlungen, wie hier in Nowa Kachowka, teilten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der für Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarcic am Dienstag mit. −Foto: TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY 59649011/imago

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine gefährdet nach Angaben der EU Hunderttausende Zivilisten. Präsident Wolodymyr Selenskyj verglich die Sprengung des Damms mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe.



Allein auf der von den Ukrainern kontrollierten rechten Seite des Flusses Dnipro müssten 17.000 Anwohner gerettet werden, sagte die stellvertretende Generalstaatsanwältin der Ukraine, Viktoria Lytwynowa, am Dienstag im Fernsehen. Rund 1300 Menschen hatten ihre Häuser laut ukrainischen Angaben bis zum Nachmittag verlassen. Weitere rund 25.000 Menschen seien auf der von Russland besetzten südlichen Flussseite in Gefahr, hieß es zudem aus Kiew. Über ihr Schicksal war zunächst wenig bekannt.

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Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Militärgouverneur Olexander Prokudin berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stünden - darunter auch Teile der Stadt Cherson. Angaben über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht.

200.000 Bewohnern droht Wasserknappheit



Das Hilfswerk Caritas teilte mit, in den Städten Odessa und Mykolajiw seien Zentren für Hochwasser-Flüchtlinge eingerichtet worden. Bislang wisse man von 600 überfluteten Häusern, hieß es. Sollte der Wasserstand im Kachowka-Stausee auf eine Höhe von unter 14 Metern absinken, drohe rund 200.000 Menschen auch außerhalb des Gebiets Cherson Wasserknappheit, warnte die Organisation. „Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte Selenskyj am Dienstag.

Ukrainische Videografik zeigt potenzielles Ausmaß



Der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschtschenko, teilte auf Twitter eine animierte Grafik, die das potenzielle Ausmaß der Zerstörung des Staudammes zeigen soll.



Dazu schreibt er: „Viele Menschen werden ihre Häuser verlieren, wenn Siedlungen überflutet werden.“ Zudem seien die Überschwemmungen eine „ökologische Katastrophe“: „Zehntausende Tonnen Fische und eine einzigartige Bisphäre werden sterben“, so Geraschtschenko. Auch die Nester von Millionen Vögeln seien überschwemmt worden. Der Berater befürchtet zudem, dass der Nord-Krim-Kanal austrocknen werde und den Bewohnern im Süden und in der Krim das Trinkwasser ausgehen könnte.

EU macht Russland verantwortlich



Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der für Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarcic machten wie andere europäische Spitzenpolitiker Russland für die Zerstörung verantwortlich. Indem Russland das ordnungsgemäße Funktionieren der Sicherheits- und Sicherungssysteme des Atomkraftwerks gefährde, setze es seinen unverantwortlichen Atompoker fort, kritisierten Borrell und Lenarcic. Die Europäische Union verurteile diesen Angriff auf das Schärfste. Er stelle eine neue Dimension russischer Gräueltaten dar und könnte als Kriegsverbrechen gewertet werden.

Scholz: „Neue Dimension“ des Ukraine-Kriegs



In vielen Ländern sorgte die Katastrophe für Entsetzen und Empörung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf Moskau vor, in dem seit mehr als 15 Monaten dauernden Krieg immer stärker zivile Ziele anzugreifen. „Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“, sagte er. „Für diese menschengemachte Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf einer Reise in Brasilien.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Moskau vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“ EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich schockiert über einen „beispiellosen Angriff“. Der britische Außenminister James Cleverly sprach von einem Kriegsverbrechen.

Vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag warf die Ukraine Russland Staatsterrorismus vor. Der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, forderte, Russland müsse seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren. Dort gehört das Land zu den fünf Vetomächten.

Hilfe zugesichert



Borrell und Lenarcic boten der Ukraine zudem Unterstützung der EU an. Das Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen verfolge aktiv die Lage und stehe in engem Kontakt mit dem ukrainischen staatlichen Nothilfedienst, teilten sie mit. Man stehe bereit, um auf alle unmittelbaren Bedürfnisse einzugehen - einschließlich nach Nahrungsmitteln und Trinkwasser.

Verzögert sich die ukrainische Offensive?



Selenskyjs Stabschef Jermak äußerte die Vermutung, dass Russland mit der Zerstörung die geplante ukrainische Großoffensive ausbremsen wolle. Auf Twitter schrieb er, durch die Sprengung nehme auch die Bewässerung für die Landwirtschaft im Süden der Ukraine Schaden.

In der Ukraine wird eine großangelegte eigene Offensive erwartet, deren Zeitplan und genaue Stoßrichtung nicht bekannt ist. Im Süden könnte die Flut den Unterlauf des Dnipro nahezu unpassierbar machen. Für die Russen verkürzt sich so die Front; sie könnten Kräfte an andere Abschnitte umlenken, an denen sie bedrängt sind.

Die ukrainischen Streitkräfte kündigten an, die Rückeroberung besetzter Gebiete trotzdem fortzusetzen. Die Ukraine verfüge über „alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden“, teilte das Militär mit. Die Besatzer hätten den Staudamm „aus Angst vor der ukrainischen Armee“ gesprengt.

− dpa/cav