Mediengruppe Bayern exklusiv
Diakonie-Präsident Lilie: „Die geplante Pflegereform ist reine Placebo-Politik“

Lauterbachs Vorschläge in der Kritik

29.03.2023 | Stand 17.09.2023, 0:19 Uhr

Als „reine Placebo-Politik“ hat Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, im Interview mit der Mediengruppe Bayern die Pläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur Pflegereform kritisiert. „Der angekündigte Befreiungsschlag ist das sicherlich nicht. Die Vorschläge sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagte Lilie.



Zur Lösung der Finanzierungsprobleme seien in erster Linie Beitragserhöhungen vorgesehen, aber keine Steuermittel, wie die Diakonie sie fordere. „Das ist eigentlich nur weiße Salbe für ein schwer angeschlagenes System, reine Placebo-Politik“, erklärte Lilie. Der Diakonie-Präsident fordert stattdessen eine strukturelle Reform des Pflegesystems. „Wenn die Regierung nicht damit anfängt, das System mit strukturellen Reformen wieder mutig auf die Beine zu stellen, fährt dieser wesentliche Teil des Sozialstaates in absehbarer Zeit vor die Wand.“

„Ohne einen zuverlässigen Fluss an Steuermitteln geht es nicht“

Als Kardinalfehler in Lauterbachs Reformkonzept sieht er die Kostensteigerungen in der Langzeitpflege, die weiter auf Bewohner sowie Einrichtungsträger abgewälzt würden. Doch „diese beiden Gruppen sind schon völlig überlastet.“ Bei der Pflege durch Angehörige ließe die Regierung die Menschen mit unzureichendem Pflegegeld im Regen stehen. „Es fehlen strukturelle Maßnahmen zur wirksamen Begrenzung der steigenden Eigenanteile“, sagte Lilie. „Ohne einen zuverlässigen Fluss an Steuermitteln geht es nicht“, glaubt Lilie. „Wir haben Eigenanteile, die im ersten Jahr, in dem Menschen in einer Pflegeeinrichtung sind, im Durchschnitt etwa das Doppelte einer Durchschnittsrente in Deutschland ausmachen. Schon jetzt können viele Menschen diese Kosten nicht tragen.“ Das bedeute, dass die Kommunen im Rahmen der Sozialhilfe in diese Kosten eintreten müssten. Er kritisiert: „Das trifft dann oft ausgerechnet die Kommunen, in denen besonders viele arme Menschen leben.“

Das Interview im Wortlaut:



Herr Lilie, sind die Pflegereform-Vorschläge von Gesundheitsminister Lauterbach der Befreiungsschlag, der die Pflege auf eine sichere Grundlage stellt?
Ulrich Lilie: Der angekündigte Befreiungsschlag ist das sicherlich nicht. Die Vorschläge sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Zur Lösung der Finanzierungsprobleme sind in erster Linie Beitragserhöhungen vorgesehen, aber keine Steuermittel, wie wir sie schon lange fordern. Deshalb sage ich: Das ist eigentlich nur weiße Salbe für ein schwer angeschlagenes System, reine Placebo-Politik. Wenn die Regierung nicht damit anfängt, das System mit strukturellen Reformen wieder mutig auf die Beine zu stellen, fährt dieser wesentliche Teil des Sozialstaates in absehbarer Zeit vor die Wand.

Gibt es einen Kardinalfehler in Lauterbachs Reformkonzept?
Lilie: Nur zwei Punkte: Zum einen werden die Kostensteigerungen in der Langzeitpflege weiter auf die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Einrichtungsträger abgewälzt. Dabei sind diese beiden Gruppen schon völlig überlastet. Und bei der Pflege durch Angehörige lässt man die Menschen mit einem völlig unzureichenden Pflegegeld im Regen stehen. Es fehlen strukturelle Maßnahmen zur wirksamen Begrenzung der steigenden Eigenanteile. So müssen etwa die Kosten der Ausbildung aus den Eigenanteilen herausgenommen werden. Ebenso fehlen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Was Lauterbach plant, ist nicht die dringend benötigte Strukturreform, die angesichts der demografischen Entwicklung die Pflegeversicherung auf tragfähige Beine stellt. Dabei signalisieren jetzt schon viele Einrichtungen und ihre Träger: Wir können unseren Versorgungsvertrag nicht mehr erfüllen, weil wir vorne und hinten nicht mehr zurechtkommen.

Eine Ihrer Kernforderungen ist die nach Steuermitteln. Warum?
Lilie: Ohne einen zuverlässigen Fluss an Steuermitteln geht es nicht. Wir haben Eigenanteile, die im ersten Jahr, in dem Menschen in einer Pflegeeinrichtung sind, im Durchschnitt etwa das Doppelte einer Durchschnittsrente in Deutschland ausmachen. Schon jetzt können viele Menschen diese Kosten nicht tragen. Das bedeutet in der Regel, dass die Kommunen im Rahmen der Sozialhilfe in diese Kosten eintreten müssen. Das trifft dann oft ausgerechnet die Kommunen, in denen besonders viele arme Menschen leben. Wir haben also schon eine öffentliche Finanzierung – allerdings in einer ziemlich schrägen Form, nämlich ausgerechnet durch die klammen Kommunen. Das Ganze sollte man jetzt auf eine vernünftige und gerechtere Basis mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt stellen. Dabei könnte man auf Quellen zurückgreifen, wie etwa Einnahmen aus der Erbschaftsteuer. Zudem müsste man versicherungsfremde Leistungen aus den Pflegekosten herausnehmen und sie anders finanzieren. Es braucht also einen Mix.

Unter dem Dach der Diakonie werden auch viele Pflegeheime betrieben. Wie sieht es bei denen aus?
Lilie: Viele Träger sagen, wir haben durch die stark gestiegenen Energie- und Sachkosten erhebliche Probleme. Hinzu kommt das Problem fehlenden Personals. Wir reden von bis zu 500.000 Fachkräften, die bis 2030 in der Pflege fehlen werden. Das sollte uns alarmieren: Wenn es so weitergeht, wird dieses Versorgungssystem an die Wand fahren.

Minister Lauterbach will nun den Einsatz von Leiharbeit in der Pflege bremsen. Ist das für Sie ein Problem?
Lilie: Wenn die Leiharbeit ein Geschäftsmodell zur normalen Gewinnung von Personal wird, dann läuft etwas schief. Das zu begrenzen, ist richtig. Andererseits wird es Leiharbeit immer geben müssen, um Spitzen, etwa durch Krankheitswellen, aufzufangen. Das nutzen auch wir. Man sollte daher das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Ist die Erhöhung des Pflegegeldes für die häusliche Pflege um fünf Prozent ab dem kommenden Jahr angemessen?
Lilie: Das Pflegegeld wurde zuletzt 2017 erhöht. Die Leistungsverbesserung kommt also deutlich zu spät und ist mit fünf Prozent auch viel zu gering, um die Inflation auszugleichen. Insgesamt wird die häusliche Pflege viel zu wenig unterstützt. Dabei werden 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt. Darum muss man alles tun, um die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Dazu gehört auch eine bessere Absicherung bei der Rente.