Die Ukraine kämpfe auch für Europa, hört man von deutschen Politikern oft. Die deutsche Bevölkerung rechnet aber eher nicht mit einem russischen Angriff auf Nato-Gebiet in diesem Jahrzehnt.
Obwohl westliche Sicherheitsexperten einen russischen Angriff auf das Nato-Gebiet in absehbarer Zeit für möglich halten, ist dies für viele Deutsche nach wie vor ein eher unrealistisches Szenario. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur.
Danach halten es 36 Prozent der Bundesbürger für wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich, dass das russische Militär bis zum Jahr 2030 einen Staat angreifen wird, der dem Bündnis angehört. Mit 48 Prozent sind fast die Hälfte der erwachsenen Deutschen der Meinung, ein solches Szenario sei unwahrscheinlich oder eher unwahrscheinlich. 15 Prozent der Teilnehmer der repräsentativen Umfrage wussten auf die Frage, wie wahrscheinlich ein russischer Angriff auf einen Nato-Staat bis 2030 sei, keine Antwort. Unter den Befragten, die angaben, bei der zurückliegenden Bundestagswahl die AfD gewählt zu haben, war der Anteil derjenigen, die einen russischen Angriff auf das Nato-Gebiet für unwahrscheinlich halten, deutlich größer als unter den Anhängern anderer Parteien.
Die Nato setzt als Verteidigungsbündnis auf das Prinzip Abschreckung. Artikel 5 des Nordatlantikvertrags regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als Angriff gegen alle angesehen wird.
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, hatte im Februar in einem Interview gesagt, Russlands Präsident, Wladimir Putin, wolle ein Groß-Russland in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion wiederherstellen, ein russisches Weltimperium, in dem er zarengleich herrsche. „Sollte Putin den Krieg in der Ukraine nicht verlieren, müssen wir damit rechnen, dass er auch nach der Republik Moldau oder den baltischen Staaten greift“, sagte der frühere außenpolitische Berater von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU).
Finnland hatte nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 gemeinsam mit Schweden die Aufnahme in die westliche Militärallianz beantragt; mittlerweile sind beide Staaten Mitglieder.
Russland stellt mehr Waffen und Munition her
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte im Mai in einer Talkshow gesagt, Russland produziere Waffen und Munition über den Bedarf für den Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus. Er ergänzte: „Jetzt kann man naiv sein und sagen, das macht er nur aus Vorsicht. Ich würde eher als skeptischer Mensch sagen in dem Fall, das macht er, weil er im Zweifel irgendwas vorhat oder haben könnte.“
Dass Deutschland in diesem Jahrzehnt Ziel eines Angriffs des russischen Militärs werden könnte, halten laut Umfrage 23 Prozent der erwachsenen Deutschen für wahrscheinlich oder eher wahrscheinlich. 61 Prozent der Bundesbürger sind gegenteiliger Meinung.
Kaum jemand ist zufrieden mit Zustand der Bundeswehr
Würde die Mehrheit an ein solches Szenario glauben, wären viele Deutsche wohl sehr beunruhigt. Denn nur zwei Prozent der Teilnehmer der Umfrage sind überzeugt, die Bundeswehr sei aktuell sehr gut für die Landesverteidigung aufgestellt. Zwölf Prozent der Befragten sehen die Truppe „eher gut“ aufgestellt. Jeweils 39 Prozent der Deutschen sind überzeugt, die Bundeswehr sei für diese Aufgabe sehr schlecht beziehungsweise eher schlecht vorbereitet. Generell beurteilen die Älteren den Zustand der Bundeswehr etwas schlechter als die Jüngeren.
Auch in Sachen Zivilschutz bleibt nach Ansicht einer großen Mehrheit noch viel zu tun. 79 Prozent der Deutschen halten die Vorkehrungen von Bund und Ländern für den Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung im Kriegsfall für nicht ausreichend. Lediglich jeder Zehnte glaubt, dass für einen derartigen Fall ausreichende Vorkehrungen getroffen worden sind. Elf Prozent der Befragten trauten sich in dieser Frage kein Urteil zu.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte Ende April gesagt, nicht nur die Bundeswehr müsse sich angesichts der veränderten Bedrohungslage in Europa umorientieren, sondern Deutschland müsse sich auch bei der zivilen Verteidigung ganz neu aufstellen. „Wir werden weitere erhebliche Investitionen in gute Warnsysteme, in moderne Hubschrauber und weitere Ausstattung vornehmen müssen“, sagte die Ministerin der Deutschen Presse-Agentur. Das Gleiche gelte für den effektiven Schutz kritischer Infrastruktur und die Versorgung für Krisenfälle. Ein Teil der Ausgaben liegt in der Verantwortung der Länder, da etwa die Trinkwassernotversorgung nicht nur für den Zivilschutz benötigt wird, sondern auch bei Krisen und Katastrophen, die keine militärische Ursache haben.
CDU-Politiker Frei wünscht sich Bewusstseinswandel in der Bevölkerung
„Leider kann heute niemand mit Gewissheit sagen, wie weit Putin seinen imperialistischen Kriegskurs treiben wird“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, der dpa. Zwar sei das Vertrauen der Bürger in die Nato und ihre Fähigkeit zur Abschreckung zurecht groß. Dennoch müsse die deutsche Verteidigungsfähigkeit weiter verbessert werden. „Dazu gehört auch ein Bewusstseinswandel in der Bevölkerung“, betonte Frei. Der Zivilschutz gehe jeden etwas an. Deutschland müsse vor der neuen Bedrohungslage nicht verzagen, „wir sollten selbstbewusst und zügig für alles gewappnet sein“.
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