Vorwürfe
Missbrauchsgutachten sieht schweres Fehlverhalten Benedikts

20.01.2022 | Stand 21.09.2023, 6:59 Uhr

Benedikt XVI. −Symbolbild: dpa

Ein Gutachten lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. Fehlverhalten im Umgang mit vier Fällen von sexuellem Missbrauch während seiner Zeit als Erzbischof des Bistums München und Freising an.



Das sagte der Jurist Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des vom Erzbistum in Auftrag gegebenen Gutachtens in München. In allen Fällen habe Benedikt - damals Kardinal Joseph Ratzinger - ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen.

Der emeritierte Papst war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Er habe umfangreich Stellung zu den Vorwürfen genommen, betonte Pusch. Dies sei im Wortlaut Teil des Gutachtens enthalten.

Kritiker werfen Ratzinger schon seit geraumer Zeit Fehlverhalten vor - konkret beim Umgang mit einem Priester aus Nordrhein-Westfalen. Der Mann soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers aus NRW nach Bayern versetzt, wo er rechtskräftig wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde und immer wieder rückfällig geworden sein soll.

Von Marx in Auftrag gegeben

Allein dieser Fall macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken, vom heutigen Erzbischof Kardinal Reinhard Marx in Auftrag gegebenen Gutachtens aus. Marx selbst halten die Anwälte Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Marx war bei der Vorstellung nicht anwesend.

Vorwürfe auch gegen Ratzingers Nachfolger

Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten, das den Zeitraum zwischen 1945 und 2019 untersucht hat, Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Sein Kollege, der Anwalt Ulrich Wastl, sprach von einer "Bilanz des Schreckens".

Die Studie listet mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche, die in den Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums zu Opfern wurden, teilte die Kanzlei mit. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie - darunter 173 Priester und 9 Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen.

Gutachten: Hat kein "Paradigmenwechsel" stattgefunden

Das Gutachten kommt auch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach "einschlägiger Verurteilung", wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern "gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter" unterblieben.

Das neue Gutachten stellt der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein "Paradigmenwechsel" mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. "Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden." Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Pusch sieht ein "generelles Geheimhaltungsinteresse" und den "Wunsch, die Institution Kirche zu schützen".

"Wenig glaubwürdig"

Laut dem vorgestellten Missbrauchsgutachten ist der emeritierte Papst Benedikt XVI. 1980 als Erzbischof von München und Freising bei einer brisanten Sitzung anwesend gewesen. In dieser Sitzung wurde entschieden, dass ein bekanntermaßen pädophiler Priester in das Erzbistum München übernommen und wieder in der Seelsorge eingesetzt werde. Benedikt, der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, bestreitet dies und versichert, er habe an der Sitzung nicht teilgenommen. Der Gutachter Ulrich Wastl präsentierte jedoch eine Kopie des Sitzungsprotokolls, wonach Ratzinger durchaus teilnahm. Demnach berichtete er in der Sitzung unter anderem von Gesprächen mit Papst Johannes Paul II.

Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für "wenig glaubwürdig", sagte Wastl. Der übernommene Priester missbrauchte anschließend erneut Kinder.

− dpa