Eine Montage zu Beginn der herzerfrischenden Komödie „Liebesbriefe aus Nizza“ versetzt den Zuschauer unmittelbar in das idyllische Haus der Familie Marsault. Eine Militaria-Sammlung verweist auf die Karriere des pensionierten Patriarchen François (André Dussollier), Noten und ein Klavier illustrieren eine Leidenschaft seiner Angetrauten Annie (Sabine Azéma). Hier wird Tennis gespielt und ein Hund beherbergt. Drei mit Namen versehene Tassen stehen für die längst ausgeflogenen Kinder des Paares.
Nach 40 Jahren meist glücklicher Ehe macht François beim Aufräumen des Dachbodens eine folgenschwere Entdeckung. Ein Bündel Liebesbriefe offenbart eine stürmische Liebesbeziehung zwischen seiner Annie und dem ehemaligen Bekannten Boris Pelleray (Thierry Lhermitte). Datiert ist die pikante Post auf eine Zeit, in der die Marsaults bereits verheiratet waren.
Für den Betrogenen bricht eine Welt zusammen. Die Ertappte leugnet zunächst und plädiert dann auf Verjährung. Doch damit kann sich François nicht zufriedengeben. Er besteht darauf, an den Tatort Nizza zu fahren und dem Casanova standesgemäß die Exkremente aus dem Leib zu prügeln. Vor Ort allerdings erweist sich die Zielperson als äußerst fitter Mittsiebziger, der sogar noch Karateunterricht erteilt. Die Rache gestaltet sich deutlich schwieriger als erwartet. Immerhin: Die rasende Eifersucht ihrer schlechteren Hälfte weckt bei Annie lang verschüttete, romantische Gefühle. Dann steht François plötzlich mit einer Schaufel bewaffnet vor Boris Tor. Und alles kommt ganz anders, als geplant…
Der Film „Liebesbriefe aus Nizza“ markiert das Zusammentreffen dreier Kino-Ikonen. Der 78-jährige André Dussollier hat in Filmen wie „Drei Männer und ein Baby“ oder „Tanguy – Der Nesthocker“ bleibende Eindrücke hinterlassen. Sein Kollege Thierry Lhermitte ist sieben Jahre jünger, blickt aber auch auf fast 50 Jahre Karriere zurück. Sabine Azéma (74) schließlich ist eine gestandene Theater-Mimin, die im Kino an der Seite von Dussollier bereits als Mutter des „Nesthockers“ zu erleben war.
„Liebesbriefe aus Nizza“ gehört zweifelsohne zu den originellsten Lustspielen, die das Sommerkino anno 2024 zu bieten hat. Der Zuschauer darf sich unter anderem auf ein unheimlich witziges Coming Out und mehrere überraschende Wendungen freuen. Dass die fabelhaften Darsteller allesamt offensichtlich großen Spaß an ihren Rollen hatten, überträgt sich unmittelbar auf das Auditorium. Die Fotografie ist exzellent und macht mit dem berührenden Klavier-Soundtrack von Laurent Aknin große Lust auf Frankreich. Ein deutsches Remake dieser Komödie dürfte nicht allzu lange auf sich warten lassen. Vielleicht ja von Sönke Wortmann, der bereits die französischen Kassenschlager „Der Vorname“ oder „Die brillante Mademoiselle Neïla“ (als „Contra“) erfolgreich neu interpretiert hat.
André Wesche
•Frankreich 2024, von Ivan Calbérac, mit André Dussollier, Sabine Azéma und Thierry Lhermitte, 95 Min., frei ab sechs Jahren
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