Abschluss der „Babylon-Berlin“-Reihe
So schnell kippt die Demokratie ins Unrecht: Kritik zu Volker Kutscher Roman „Rath“

30.10.2024 | Stand 31.10.2024, 17:51 Uhr |

Gereon und Charlotte Rath stehen als Ehepaar im Zentrum des zehnten und letzten Bandes der Romanreihe von Volker Kutscher. Hier ein Ausschnitt des Covers. − Foto: Piper

Im letzten Band kulminiert das Geschehen zum grandiosen Finale. Folgender Satz beendet eine Geschichte, an der Volker Kutscher sich 20 Jahre abgearbeitet, die er in nun zehn Romanen ausgebreitet hat: „Er hatte so verloren ausgesehen. Und genauso fühlte sie sich auch. Vielleicht waren sie ja alle verloren in diesen Zeiten, nur hatten die meisten Menschen das noch nicht gemerkt.“

Die zehn Bücher sind eine Tour de Force vom Ende der 1920er Jahre bis in die ersten Jahre der NS-Diktatur. Auch wer die Vorgängerbände nicht gelesen hat, wird staunend verfolgen, wie die Akteure und mit ihnen ein ganzes Volk am Abgrund stehen und die mit der Weimarer Republik eingeführte Demokratie endgültig vor die Hunde geht. „Die Pogromnacht ist für mich der Point of no Return“, sagt der Autor (siehe auch unser Interview auf pnp.de/kultur). Deshalb endet die Reihe im Jahr 1938 unmittelbar nach der Reichspogromnacht. Brennende Synagogen, zerdepperte Schaufensterscheiben, zusammengeschlagene und ermordete Juden. Das unmenschliche Geschehen des 9. November wird dem Leser detailreich, sehr eindrücklich und realistisch vor Augen geführt.

„Rath“ ist ein treffender Titel: zum einen der Familienname der Hauptakteure, des Ehepaars Gereon und Charlotte (Charly). Und zugleich der des am 7. November 1938 ermordeten deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Das von dem Juden Herschel Grynszpan in Paris auf ihn ausgeführte Attentat diente dem nationalsozialistischen Regime als Vorwand für die Novemberpogrome.

Doch zur Handlung: Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot erklärte Gereon taucht wieder in der Heimat auf. Er verlässt mit seinem Bruder Severin die USA, wo er mit neuer Identität seit zwei Jahren lebte, um seinen sterbenden Vater noch einmal zu sehen. Gereon taucht zunächst im Rhöndorfer Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter und trifft sich heimlich mit Charly, die er mit in die USA nehmen will.

Doch dieser kommen zwei Kriminalfälle in die Quere. Fritz, ehemaliger Pflegesohn der Raths und in der Hitlerjugend aktiv, gerät unter Mordverdacht. Er soll zwei Hitlerjungen getötet haben. Die Beweise dafür erscheinen Charly als zu konstruiert. Fritzes neuer Ziehvater Wilhelm Rademann, linientreuer Hauptbannführer der Hitlerjugend, scheint ein eigenes böses Spiel zu treiben. Zudem ist die Freundin von Fritz, eine junge Jüdin, bei einer Zwangssterilisation angeblich „durch unvorhersehbare Komplikationen“ gestorben. Charlotte will aufklären. Dafür kehrt sie sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die freilich längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Schnell muss sie feststellen, dass sie selbst alten Freunden nicht mehr trauen kann, weil sie zur Verrätern oder Denunzianten werden. Jeder soll jeden bespitzeln.

Vor dem Hintergrund des Münchner Abkommens, das die Tschechoslowakei preisgibt, und drohender Kriegsgefahr lotet der Autor brillant aus, wie der Alltag aus den Fugen gerät, wie die menschenverachtende Ideologie nach und nach den Alltag dominiert. Für Gerechtigkeit ist längst kein Platz mehr. Charly bringt sich in höchste Gefahr, weil sie gegen den Willen des Regimes ermittelt. Ein alter Feind, SS-Obersturmbannführer Tornow, hat es nicht nur auf Gereon, sondern auch auf Charly abgesehen.

Das Buch fesselt wegen des spannend erzählten Geschehens, das akkurat in die historische Realität einpasst ist, es begeistert aber auch wegen der unterschiedlichen Charaktere und deren Komplexität. Während Charly sich treu bleibt als Gegnerin des Regimes, die ihre moralischen Prinzipien nicht verrät, zeigt sich Gereon skrupelloser, rücksichtsloser und weniger gefestigt – ein Antiheld par excellence. Und über allem spannt sich für den heutigen Leser ein Schirm der Beklemmung auf. Sieht man doch, wie schnell aus einer Demokratie das schlimmste Unrechtsystem werden kann. Der 61-jährige Autor sagt hierzu: „Ich möchte Menschen dazu bringen, sich mit der damaligen Geschichte zu beschäftigen. Viele Leute wissen zu wenig darüber und laufen deshalb leichtfertig irgendwelchen Rattenfängern hinterher.“

Stefan Rammer


Volker Kutscher, Rath, Piper, 624 Seiten, 26 Euro

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