Kinokritik
Josef Haders „Andrea lässt sich scheiden“: Schuld und Sühne in der Provinz

03.04.2024 | Stand 05.04.2024, 15:03 Uhr |
Martin Schwickert

Ein tödlicher Unfall bringt sie zusammen: Religionslehrer Franz (Josef Hader) und die ambitionierte Polizistin Andrea (Birgit Minichmayr). − F.: Majestic

Schnurgerade zieht sich die Landstraße von Bäumen gesäumt aus der Senke den Hügel hinauf bis zum Horizont. Über mehrere Filmminuten hält die Kamera das Stillleben fest, bis in der Ferne ein Polizeiwagen erscheint und in einen Feldweg einbiegt. Andrea (Birgit Minichmayr) und ihr Kollege Georg (Thomas Schubert) steigen bewaffnet mit Kelle und Radargerät aus und postieren sich am Straßenrand. Nach einer halben Ewigkeit zieht ein Trecker mit Mindestgeschwindigkeit vorbei.



„Was feiert man eigentlich am Geburtstag?“, fragt Georg. „Dass du nicht gestorben bist in diesem Jahr“, lautet Andreas Antwort, die dem Kollegen sogleich vorrechnet, was ihn seine 30. Geburtstagsfeier am Abend in der Dorfkneipe kosten wird.

Mit einer lakonischen Miniatur des ländlichen Provinzlebens aus der Polizeiperspektive beginnt Josef Haders „Andrea lässt sich scheiden“. Wie sein finnischer Kollege Aki Kaurismäki liebt auch Hader die statischen Kameraeinstellungen, die sich vom Verhalten der Figuren im Bildausschnitt nicht beeindrucken lassen. Und natürlich ist der unbewegte Blick nur das Äquivalent jener Stagnation, die den Alltag im dörflichen Mikrokosmos bestimmt.

Andrea hat sich entschieden, nicht mehr länger am Landstraßenrand auf Geschwindigkeitsübertretungen zu warten. Sie will in die nächst größere Stadt zur Kriminalpolizei wechseln. Dafür lässt sie nicht nur ihren Geburtsort hinter sich, sondern auch ihren Ehemann. Die Scheidung ist eingereicht. Daran kann auch der verzweifelte Versöhnungsversuch nichts ändern, den Andy (Thomas Stipsits) nach übermäßigem Schnapskonsum am Rande der Geburtstagsfeier mit aggressivem Selbstmitleid einfordert.

Als Andrea sich auf den Nachhauseweg macht, läuft ihr der besoffene Ex wie ein Reh vors Auto. Alle Wiederbelebungsversuche scheitern. Sie lässt den Toten auf der Straße liegen und fährt davon. Wenig später steht Kollege Georg vor der Tür, berichtet ihr von dem tödlichen Unfall und einem geständigen Täter. Der örtliche Religionslehrer Franz (Josef Hader) ist ein weiteres Mal über den Leichnam gefahren und glaubt nun, er sei schuld. Hader erzählt diese tragische Schuld-und-Sühne-Geschichte mit seismographischer Genauigkeit, aber ohne dramati-sche Amplituden. Mit Birgit Minichmayr hat er dafür die ideale Hauptstellerin gefunden, die die Mikroemotionen hinter der stoischen Fassade der Polizistin nur für Sekundenbruchteile durchscheinen lässt.

Trotz seines Titels klebt „Andrea lässt sich scheiden“ nicht allein an seiner Protagonistin. Immer wieder lässt Hader seinen nüchternen Blick durch das beengte dörfliche Soziotop wandern, das nur noch bei runden Geburtstagen mit viel Schnaps als Dorfgemeinschaft zu erkennen ist. Wie in genreverwandten deutschen Filmen à la „Niemand ist bei den Kälbern“ zeigt sich hier auch die niederösterreichische Provinz als ausblutender Gesellschaftskörper. „Die Frauen ziehen weg. Die Männer werden immer komischer“, konstatiert der Polizist, der selbst demnächst von seiner Kollegin verlassen werden wird.

Martin Schwickert


Ö 2024, von Josef Hader, mit Birgit Minichmayr, Josef Hader, 94 Minuten, frei ab 6 Jahren; Trailer auf pnp.de/kultur

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