Wenn ein Erzählwerk auf die Bühne übertragen wird, bleibt die innere Handlung meist auf der Strecke. Bei der Umsetzung eines Romans in eine Oper wird die psychologische Ebene in die Musik verlegt. So verfuhren der polnisch-russische Komponist Mieczysław Weinberg (1919-96) und Librettist Alexander Medwedew mit Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“ (1869). Eine Kurzfassung wurde 1991 in Moskau uraufgeführt, zwölf Jahre später ging in Mannheim die vollständige Oper über die Bühne, und 2023 spielte man sie in Wien. Die Inszenierung bei den Salzburger Festspielen ist also erst die vierte Bühnenrealisierung dieses Werks.
Zur Handlung: Der von einem langen Aufenthalt in der Schweiz zurückgekehrte Fürst Myschkin ist ein Sonderling, der mit einem naiven, fast einfältigen Menschenbild und entwaffnender Offenheit die von Geldgier und Opportunismus geprägte Oberschicht St. Petersburgs brüskiert. Sein unkonventionelles Verhalten trägt dem jungen Mann den Beinamen „Idiot“ ein. Er ist der „heilige Narr“, ein Typus, der im Russischen „Jurodiwy“ heißt, ein göttlich inspirierter Exzentriker. Ähnlich wie Boris Godunow ist Myschkin ein Anti-Held, zum Scheitern verurteilt, aber unbeirrt gegen den Strom schwimmend.
Viel Dostojewski steckt in Myschkin. Aber auch Weinberg konnte sich in ihm wiederfinden, meint Mirga Gražinyt-Tyla, die Dirigentin der Salzburger Inszenierung. Sie sieht in Weinbergs Partitur unzählige motivische Verästelungen. Diese setzt die 38-jährige litauische Dirigentin mit den Wiener Philharmonikern akribisch und souverän um. Orchester und Gesangssolisten können sich auf sie absolut verlassen.
Der ukrainische Tenor Bogdan Volkov meistert die Titelrolle mit stimmlichem Glanz und großem schauspielerischen Können. Seine Verkörperung des nach Wahrheit suchenden Myschkin fesselt das Publikum vier Stunden lang. Vladislav Sulimsky als sein Freund-Feind Rogoschin, Xenia Puskarz Thomas als die eifersüchtige Aglaja und Iurii Samoilov als der alles kommentierende Lebedjew singen und spielen ebenfalls auf höchstem Niveau. Ausrine Stundyte, in der Rolle der ambivalenten Nastassja, mag stimmlich nicht immer auf dieser Höhe sein, überzeugt aber darstellerisch in jeder Szene. Das auflockernde Element im tragischen Geschehen fällt der Matrone Jelisaweta Jepantschina zu; hinreißend verkörpert Margarita Nekrasowa die Rolle dieser „komischen Alten“.
Die Regie von Krzysztof Warlikowski, obwohl vom Premierenpublikum nicht minder umjubelt wie Gesangssolisten, Orchester und Dirigentin, wirkt mitunter etwas bemüht. Die Titelfigur als Wissenschaftler darzustellen und gar in die Nähe Einsteins zu rücken, entspricht nicht Myschkins Wesen, denn er ist ein Träumer, beseelt von Empathie und Altruismus. Durch Wahrhaftigkeit will er die Menschen, durch Schönheit die Welt retten. Die materialistische Männerwelt belächelt ihn, und die Frauen finden ihn erst interessant, als er plötzlich zu Geld kommt. Das Heft nimmt der rücksichtslose Tatenmensch Rogoschin in die Hand. Er tötet kaltblütig Nastassja, Myschkin ist passiv und machtlos.
Grandios wird dieses Geschehen auf der Bühne der Felsenreitschule realisiert, von den Wiener Philharmonikern mit enormer Klangfülle und Plastizität getragen. Aufschreckende Dissonanzen im Blech wechseln mit romantischen Klarinetten-Kantilenen. Atonales kontrastiert mit Melodischem, Streicher rollen Klang-Teppiche aus oder drängen in sich überlagernden Sekunden-Intervallen vorwärts. Das bestens disponierte Orchester haucht Weinbergs vielschichtigem Klang-Universum Leben ein.
Eine grandiose Aufführung, vom Premierenpublikum mit frenetischem Beifall, enthusiastischem Trampeln und stehenden Ovationen belohnt. Intendant Hinterhäuser hat mit der Wiederbelebung dieser kaum bekannten Oper einen Volltreffer gelandet.
Helmut Rieger
Weitere Aufführungen: 11., 15., 18. 23. August; Karten: salzburgerfestspiele.at
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