Wo waren sie denn nun eigentlich, die angekündigten Kontroversen, Krisensituationen und Ausnahmezustände? Bevor das Filmfestival in Cannes dieses Jahr begann, herrschte schließlich einige Aufregung. Nicht nur, weil Frankreich vor seinem großen #MeToo-Moment stand, nachdem eine Liste mit Namen von männlichen Filmschaffenden kursierte, die mit sexuellen Übergriffen in Verbindung stehen sollten. Auch ein Streik von Festivalangestellten drohte, die Großveranstaltung (zumindest teilweise) lahmzulegen. Letzten Endes passierte allerdings: nichts!
Auch der Krieg in Gaza spielte, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle. Cate Blanchett trug zwar auf dem roten Teppich ein Kleid mit den Farben der palästinensischen Flagge. Demos oder Störungen aber blieben aus. So lief das Festival doch ganz reibungslos ab und das Hauptaugenmerk lag wie immer: auf der Filmkunst und Spektakeln à la „Furiosa: A Mad Max Saga“, auf Glamour und den hochkarätigen Stars, die gewohnt zahlreich in die Azurküstenstadt strömten: Emma Stone, Meryl Streep, Demi Moore, Chris Hemsworth, Catherine Deneuve – um nur einige zu nennen.
Jetzt allerdings biegt die 77. Ausgabe des Festivals in die Zielgerade. Am Samstagabend, 25. Mai, findet die Preisverleihung statt. Doch wie wird sich die Jury unter Vorsitz von Regisseurin und Schauspielerin Greta Gerwig bei der „Goldenen Palme“ entscheiden? Einige Beiträge hatten einen feministischen Blick auf die Dinge und thematisierten toxische Männlichkeit. Bei der Jury-Präsidentin, deren feministische Haltung bislang nicht nur in ihrem „Barbie“-Blockbuster im vergangenen Jahr deutlich wurde, dürften sie durchaus auf Resonanz stoßen: auch durch ihre mitreißenden Frauenfiguren, die sich mit tougher Energie durch ihre Leben kämpfen und grandios beherzt gegen ihre schwierigen sozialen Situationen stemmen.
So wie Malou Khebizi als junges Mädchen in Agathe Riedingers „Diamant brut“, das von einer Karriere als Reality-Sternchen träumt. Oder Mikey Madison als junge Sexarbeiterin aus Sean Bakers „Anora“, die sich auf eine Blitzhochzeit mit einem verwöhnten Millionärssöhnchen einlässt. Auch der transsexuelle mexikanische Kartellchef aus Jacques Audiards außergewöhnlichem Musical „Emilia Perez“ kann dazugezählt werden, lässt er sich doch zur Frau umoperieren, um auf ersehnte Weise leben zu können.
Zu den überraschenden Kritiker-Favoriten zählt auch Coralie Fargeats „The Substance“: ein brachialer, feministischer Körperhorror, der blutig mit Schönheits- und Jugendwahn abrechnet und Demi Moore zum Comeback verhilft. Erinnerungen an „Titane“ von Julia Ducournau werden wach, der 2021 die Palme gewann. Nicht nur, weil es sich dabei um ungewöhnlichen Horror handelt. Auch weil sich wieder eine Regisseurin auf dem Festival durchsetzen könnte, auf dem Regisseurinnen notorisch unterrepräsentiert sind.
Als eine der letzten Premieren dieses Jahrgangs steht am Freitag noch „The Seed of the Sacred Fig“ aus, das neue Werk von Mohammad Rasoulof. Der iranische Filmemacher, der erst kürzlich in seiner Heimat zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und darauf sofort ins Ausland floh, soll auch persönlich nach Cannes kommen. Bei all dem künstlerisch vielseitigen Eskapismus auf dem Festival wird der Wettbewerb so auf den letzten Metern noch einmal deutlich politisch – und vielleicht kommt damit ja auch ein letzter Favorit ins Palmen-Rennen.
Sascha Rettig
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