Pinakothek der Moderne
Die Paradiesvögel der Kunst: Schau „Eccentric. Ästhetik der Freiheit“ in München

28.11.2024 | Stand 29.11.2024, 14:57 Uhr |
Joachim Goetz

Ganz schön bunt hier: Blick in die Sonderausstellung „Eccentric. Ästhetik der Freiheit“. − Foto: Koyupinar, Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Naturwissenschaftlich betrachtet scheint alles ganz einfach. Exzentrisch bedeutet bloß: außerhalb des Kreises, auf einer anderen Umlaufbahn – oder frei übersetzt: nicht im Mittelpunkt. Verwendet wurde dieser Begriff in der Antike für Himmelskörper, für Sterne, die sich nicht um die Erde drehen. Sie bewegten sich außerhalb des damals vorstellbaren geozentrischen Weltbildes, galten deshalb als unberechenbar – und ängstigten womöglich manche Menschen.

Schriller und frecher kann Kunst kaum mehr sein

Gilt Ähnliches etwa auch für diverse Künstler? Die derzeit in der Pinakothek der Moderne in München gezeigte Ausstellung mit dem Titel „Eccentric – Ästhetik der Freiheit“ legt es nahe. Zu sehen sind von etwa 50 Künstlern 100 Werke, unterteilt in fünf Kapitel. Spektakulärer, schriller, frecher, farbiger kann Kunst kaum mehr sein. Und mit exzentrisch ist hier freilich auch die zweite Bedeutungsebene gemeint: auf übertriebene Weise ungewöhnlich, vom Üblichen abweichend.

Das beinhaltet mutige Überschreitungen der Normen, Offenheit gegenüber anderen Perspektiven und die an Künstlern oft bewunderte totale Unabhängigkeit – auch von der Gesellschaft, in der sie sich tummeln. Die (bekannten) Namen reichen von Salvador Dalí über Joseph Beuys, Jonathan Meese, Jeff Koons oder Andy Warhol bis hin zu Max Ernst und Alberto Giacometti.

Warum aber ecken Künstler überhaupt – und mit ihren Kreationen – an? Fühlt sich da mancher Betrachter bedroht? Die sich als „Hermaphroditzwillinge aus der Zukunft“ bezeichnenden Eva und Adele, Urgesteine der Performancekunst seit 1991, sagen jedenfalls, dass sie überlegen müssen, in welchem Stadtteil Berlins sie noch ausgehen können. Warum das? Sie sehen natürlich in ihrem immer durchgestylten, selbst entworfenen und oft poppigen Partnerlook ein bisschen sehr schrill aus. Geschlechtlich sind sie nicht zuzuordnen. Sie behaupten, sie seien 1991 mit einer Zeitmaschine aus der Zukunft in Berlin gelandet. Seither treten sie – immer nur gemeinsam – mit exzentrischen, gerne pinkfarbenen Damenkostümen, Stöckelschuhen, Handtäschchen, kahlgeschorenen Köpfen und bunt geschminkten Gesichtern in die Öffentlichkeit. Aber sie tun niemandem etwas. Und haben das auch nicht vor.

Auf den ersten Blick anders sieht das bei der unscheinbar im hellblauen Kleidchen durch die Straßen hüpfenden Pipilotti Rist aus. In der Hand einen langstieligen Metallstab mit einer Fackel-Verdickung obenauf schlägt sie vergnüglich scheinbar wahllos auf Autoscheiben ein. Bis diese zersplittern. Eine Polizistin grüßt freundlich im Vorbeigehen – und Rist erhielt 1997 als 35-Jährige auf der Biennale in Venedig für dieses Video mit dem Titel „Ever is Over All“ den Premio 2000 für junge Talente. Sie wurde international bekannt. Und möchte mit ihren Arbeiten „die Betrachter wach küssen“. Damit ihr Alltag leichter wird.

Exzentrik hat so gesehen nichts mit spektakulärem Äußeren zu tun. Das unterstreichen auch Gilbert & George. In ein super langweiliges Tweed-Outfit mit sauber gebügelten Hemden und Krawatten gekleidet mag man den Briten gar nicht zutrauen, dass ihre gemalten Bild-Tableaus etwa Ornamente aus Exkrementen und Geschlechtsteilen zeigen. Was irgendwie doch etwas nach Anarchie riecht.

Besonders interessant ist das Kapitel „Exalted“. Weil es darin um Künstler-Persönlichkeiten geht, die sich ihren eigenen Kosmos geschaffen haben. Dazu gehören etwa die avantgardistische Feministin Judy Chicago, Raquib Shaw oder der amerikanische Pianist und Sänger Liberace, der sich selber als „Ein-Mann-Disneyland“ bezeichnet. Als Vorbild dienen könnte ihnen allen ein Weltbekannter: König Ludwig II. mit seinem 1892 fertiggestellten Schloss Neuschwanstein, einer eklektischen Mixtur aus Mittelalter, Renaissance, Romantik, Plüsch und Kitsch. Die Kennzeichen dieser Persönlichkeiten: Sie besitzen eine innere Berufung, sind mit überbordendem kreativen Potenzial ausgestattet und ignorieren in ihrem selbst geschaffenen Kosmos alles Nützliche, Rationale, Ausgewogene. Was andere davon halten, ist ihnen total egal. Sie sind von ihren selbst entwickelten Werten und Maßstäben absolut überzeugt. Bei Künstlern kann man aber (im Gegensatz zu manchen Politikern) auch sagen: Sie wollen nicht andere zu ihren Überzeugungen bekehren. Sie zu bewundern, lehnen sie freilich nicht ab.

Freiheit jenseits von Ideologien

Was uns die Ausstellung damit sagen will: Dass Künstler mit ihrer Einstellung zur Freiheit jenseits von Ideologien Stützen der Demokratie und des Humanismus sind. Exzentriker sind und waren für die Fortentwicklung einer Gesellschaft von hoher Bedeutung – was Studien unter Beweis stellen. Gilt natürlich nicht allein für die Kunst – sondern ganz allgemein. Auch Wissenschaftler und Erfinder waren oft dann am erfolgreichsten, wenn sie sozusagen gegen den Strich dachten, einer exzentrischen Eingebung folgten – selbst wenn das manch anderer für verrückt hielt. Aber vielleicht wird aus diesem Thema ja auch noch mal eine Ausstellung.

Joachim Goetz


Bis 27. April, Pinakothek der Moderne München, Barer Straße 40, geöffnet Di. bis So. 10-18, Do. bis 20 Uhr

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