Mit seinem neuen Werk „Emilia Pérez“ begibt sich der mittlerweile 72 Jahre alte französische Regisseur Jaques Audiard („Wo in Paris die Sonne aufgeht“) nach Mexico-City, um sich noch ein Mal neu zu erfinden. Hier arbeitet die Anwältin Rita (Zoe Saldaña) für eine Kanzlei, die reiche, schuldige Klienten vor dem Gefängnis bewahrt. Nachts tippt die unterbezahlte Angestellte frustriert die verlogenen Plädoyers in den Computer, stürzt auf die Straße und singt ihre Wut hinaus – und die Menschen auf dem Markt, die Demonstranten auf der Straße sowie eine Putzkolonne in pinkfarbener Dienstbekleidung stimmen in ihren Song ein.
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Und schon werden wir hinein geworfen in ein Musical, das dank wilder Choreographien und beherztem Liedgut nur wenig mit den glatten Hollywood-Standards zu tun hat. Und das Musical-Element ist nur eine von vielen Genre-Zutaten, die Audiard mit cineastischer Euphorie ineinander verquirlt. Denn eigentlich beginnt „Emilia Pérez“ zunächst als Drogen-Thriller.
Nach einem erfolgreichen Prozessausgang meldet sich nachts eine Stimme am Telefon, die Rita einen Auftrag mit Millionenhonorar anbietet. Am verabredeten Treffpunkt wird sie gekidnappt und mit einem schwarzen Sack über dem Kopf weit hinaus in die Pampa gefahren. Der Auftraggeber entpuppt sich als der Kartellboss Manitas Del Monte, der die Anwältin für einen prekären Job anheuern will. „Ich möchte eine Frau werden“ raunt der furchteinflößende Mann mit vergoldetem Gebiss und vernarbtem Gesicht.
Manitas will aussteigen aus dem Drogengeschäft und sich mit der Geschlechtsumwandlung endlich seinen tiefsten Wunsch erfüllen. Rita soll die passende Klinik finden, den fingierten Tod des Drogenbosses und die notwendigen Papiere für die neue Identität vorbereiten sowie Manitas Frau Jessie (Selena Gomez) mit den beiden gemeinsamen Kindern, die nicht in die Pläne eingeweiht sind, in die Schweiz in Sicherheit bringen.
Wenige Monate später wacht Manitas aus der Narkose als Frau auf, gibt sich den Namen Emilia Pérez und überweist Rita die versprochenen Millionen. Vier Jahre später nimmt die Klientin erneut Kontakt zur Anwältin auf. Emilia (Karla Sofía Gascón) sehnt sich nach ihren Kindern, die sie zusammen mit deren Mutter in ihre Villa in Mexico City umsiedeln will. Aber nicht nur in familiärer Hinsicht sucht Emilia nach einem Neuanfang. Auch mit ihrer mörderischen Vergangenheit versucht sie ins Reine zu kommen.
In dem melodramatischen Plot, der sich an Telenovela-Formate anlehnt und gleichzeitig an die Filme von Pedro Almodóvar erinnert, verhandelt Audiard auf höchst lebendige und kongeniale Weise Grundsatzfragen von Schuld, Reue und Sühne, von Geschlechteridentität und persönlicher Veränderung, von Freundschaft, Mutterschaft, Liebe, Politik und Gewalt.
Zuviel auf einmal, erst recht in einem Musical-Format, könnte man denken. Aber die ambitionierte, wilde Melange entwickelt sich schon bald zu einem mitreißendem Kinoerlebnis, das den kollektiven Publikumspuls höher schlagen lässt. Von der unbändigen cineastischen Energie, die „Emilia Pérez“ über zwei Kinostunden auf der Leinwand freisetzt, könnte sich das deutsche Film- und Fernsehschaffen mehrere Geschäftsjahre ernähren. Was für ein toller Film! Unbedingt anschauen.
Martin Schwickert
• F/B 2024, von Jaques Audiard, mit Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, 130 Minuten, frei ab 12 Jahren
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