Am Schluss dieser fast 85 Minuten hängt man dann doch leicht erschlafft und mit dem Eindruck in den Seilen, ein Album nicht einfach bloß gehört und im Großen und Ganzen ja auch genossen, sondern es bewältigt zu haben. „Hurry up Tomorrow“ werde wohl sein finales Album unter dem Namen The Weeknd sein, deutete Abel Tesfaye, der Mitte Februar 35 wird, mehrfach an. Falls dem wirklich so ist, und in diesem Punkt ist Zurückhaltung geboten, denn mit dem Rückzug seines Alias‘ kokettierte Tesfaye bereits auf dem Vorgänger „Dawn FM“ vor drei Jahren, so ist das ein kluger Entschluss. Auf dieses Manifest des musikalischen Übermannes nämlich noch einen draufsetzen zu wollen, erscheint einigermaßen unvorstellbar.
Pop, ein gutes Stück größer als das Leben
The Weeknd hat ja immer schon Pop gemacht, der ein gutes Stück größer war als das Leben. Sechs Alben in zwölf Jahren hat das im kanadischen Toronto geborene und in Los Angeles lebende Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter mit äthiopischen Wurzeln veröffentlicht, und jede neue Platte war noch epischer, noch ambitionierter, manche würden sagen noch überkandidelter als die davor. Welthits pflasterten diesen Weg: „Starboy“ etwa, „I Feel it Coming“ und allen voran natürlich „Blinding Lights“, der nach menschlichem Ermessen erfolgreichste Popsong des 21. Jahrhunderts sowie ganz offiziell der meistgestreamte mit 4,6 Milliarden Klicks allein auf Spotify. Insgesamt kommt The Weeknd bei dem Anbieter auf 27 Stücke mit jeweils über einer Milliarde Aufrufen, auch das ist Weltrekord.
Dass sich Tesfaye als The Weeknd als von Dämonen gepeinigter, immer wieder der Schwermut anheimfallender, in der Liebe hochambitioniert scheiternder Schmerzensmann präsentiert, ist ein wesentlicher Bestandteil seines Kunstbegriffs. Zugleich blieb er immer vage, distanziert, schwer greifbar. Eine Persönlichkeit im steten Nebel.
Auf „Hurry up Tomorrow“, so scheint es zumindest, öffnet der enigmatische Superstar die Tür zu seiner Seele ein paar Zentimeter weiter. Das Schicksal eines vaterlosen Lebens greift er wiederholt auf, genauso seine Schwierigkeiten, die Liebe zu finden und festzuhalten, insbesondere aber lamentiert er schon arg ausufernd über die Bürde des Erfolgs und das eigene Berühmtsein.
Musikalisch ist das Album fantastisch
Denkt man sich das Gejammer weg, ist das Album rein musikalisch betrachtet allerdings fantastisch. „Hurry up Tomorrow“ ist ein Riesenfest für alle Freunde üppigsten Synthesizer-Einsatzes, und Liebhaber von 70er-Disco und 80er-Pop, sei es von den Bee Gees, von a-ha und so weiter und so fort. Allen voran aber huldigt er Michael Jackson, dem Strauchelkönig des Pop, als dessen Nachfolger nicht nur The Weeknd selbst sich sieht. Ganz lässig flechtet er auch mal ein Sample von Nina Simones „Wild is the Wind“ (in „Give up on Me“) oder ein bisschen Beatles-Psychedelik („Reflections Laughing“) ein, und dass die Synthies in der 70er-Soul-Ballade „Big Sleep“ nach Giorgio Moroder klingen, liegt daran, dass sie fürwahr von Giorgio Moroder stammen. Weitere Gäste sind unter anderem Pharrell Williams, Playboi Carti, Future, Travis Scott und ein weiteres Mal Lana Del Rey, die gegen Ende des Düsterliebesdramas „The Abyss“ zu hören ist. Gegen die sich latent einschleichende Eintönigkeit der epischen Synthie-Gebirgslandschaften sei angeraten, sich ein paar Mal zwischendurch „São Paulo“, eine fünfminütige Brasilianischer-Funk-trifft-auf-pulsierenden-House-Orgie mit Gastsängerin Anitta, reinzuziehen. Danach ist man wieder wach.
Steffen Rüth
The Weeknd: „Hurry up Tomorrow“, CD ca. 20 Euro, verfügbar auf allen Streamingplattformen
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