Neue Musik der "Besten Band der Welt"
So klingt das Album "Hell": Acht Jahre, bis die Ärzte kommen

Seit 2012 gab es Knatsch bei der "Besten Band der Welt" – Jetzt ist das fulminante neue Album "Hell" erschienen

25.10.2020 | Stand 21.09.2023, 0:12 Uhr

In Würde altern, das geht. Seriös altern und im Herzen von Beruf Rockmusiker bleiben, das geht ebenso: Farin Urlaub, Rodrigo Gonzalez, Bela B alias Die Ärzte. −Foto: Jörg Steinmetz

Nach acht Jahren voller Querelen zwischen den Musikern, mit nur wenigen Auftritten und kaum neuer Musik meldet sich die Berliner Band Die Ärzte – 1982 gegründet und bis heute eine der beliebtesten im ganzen Land – mit einem starken Album zurück. Erste Duftmarken sind gesetzt: Die zweite Single "True Romance" landete auf Platz eins der Charts. Zuvor erreichte "Morgens Pauken" schon Platz drei. Das fulminante Album "Hell" von Bela B (57), Farin Urlaub (56) und Rodrigo Gonzalez (52) verspricht weitere Erfolge, vor allem aber: Es gibt jede Menge Musikspaß.



"Es ist eine unserer besten Platten", sagt Schlagzeuger Bela B. Eine übliche Phrase, aber hier stimmt sie wohl. "Diese Mischung ist echt geil", ergänzt Gitarrist Urlaub und nennt den hörbaren Grund, "jeder von uns schreibt Songs, die die anderen beiden niemals schreiben würden".

So ist "Hell" (Bela B: "Himmel oder Hölle? Was Religiöses? Wir mögen das schon, diese Mehrdeutigkeit") enorm vielseitig. Harte Rockriffs bilden eine Wand als Klang neben gezupfter Streicherromantik, erstklassiger Pop findet sich neben Kurt Weill’scher Avantgarde, schunkelnder Bierfröhlichkeit oder wildem Punk.



Punk? So provozierend Die Ärzte einst begonnen haben, so wird das Rebellische bei den längst arrivierten Musikern immer wieder in Frage gestellt. Das haben sie mit der ersten Auskopplung "Morgens Pauken" selbst auf die Schippe genommen, wenn sogar Chardonnay zu Punk erklärt wird. "In den 90ern ging es los mit Golf-Punk und Business-Punk", sagt Urlaub. "Und dann hieß Punk: Wir sind alle sowieso ein bisschen anders und eigentlich stecken wir alle unter einer Decke. Der Song ist die finale Abrechnung mit jedem, der für sich in Anspruch nehmen will, dass er eigentlich auch Teil cooler Subkultur ist." Bela B sieht im Song auch ein "Plädoyer für Vielseitigkeit".



Wie erfolgreich Die Ärzte ansteckend fröhlichen Pop machen können, zeigt "True Romance", ein Song über einsamen Sex in virtuellen Zeiten mit Textzeilen wie diesen: "Hey Siri! Erzähl mir über Sex mit Alexa /Die tut so prüde, das macht die doch extra." Unter #singtrueromance finden sich im Netz bereits unzählige Coverversionen. Der Zusammenschnitt "We Are The Romance" vereint Künstler wie Die Toten Hosen, Antilopen Gang, Beatsteaks, Deichkind, Fettes Brot, Kraftklub und Tocotronic bis zu H.P. Baxxter oder Roland Kaiser. Mit "Das letzte Lied des Sommers" gibt es auf "Hell" zudem noch einen Song, der nahtlos an die launige Mitsingkultur eines Hits wie "Westerland" anknüpft: "Ich träume immer noch von Sonne, Sand und Meer / doch ich steh’ hier im Berufsverkehr" – man hört schon förmlich die vielstimmige Chöre im Pendlerstau. Karibisch-fröhlich besingt "Ich, am Strand" die Ego-und-Selfie-Manie – bis zum finalen Foto beim Kippensammeln unter der Brücke.

Daneben steht mit "Achtung: Bielefeld" eine sehr rockiges Plädoyer für ein offenes Bekenntnis zur Langeweile. Wie ernst es den Ärzten damit ist, zeigt die Zeile "Ich denke, dass eine Mutter in Aleppo sich auch ganz gern mal langweilen würde." Farin Urlaub zum Song: "Der Bezug zu Aleppo war mir beim ersten Hören sogar zu hart und jetzt bin ich total glücklich, dass es auf dem Album drauf ist." Bela B: "Es ist ein verdammter Luxus, dass wir uns langweilen dürfen. Genauso wie es verdammter Luxus ist, dass wir hier in unserem Land nur beim Einkaufen eine Maske tragen müssen. Es ist auch ein Song gegen das Jammern."

Womit wir bei der Politik wären. "Wer verliert, hat schon verloren" warnt vor schneller Aufgabe kämpferischer Ziele. Daneben geht es gegen krude Verschwörungsmythen aus dem "Netz der Wahrheit". In "Woodburger" wird die AfD unterlaufen, die könne zudem "ohne Angst und Hass nicht überleben". Mit "Liebe gegen rechts" setzen Die Ärzte auf die Heilkraft der Zuwendung; es wird "niemand als Faschist geboren".

Für Urlaub ist "Hell" ein "relativ" politisches Album. Es seien Alltag und Dinge, "mit denen wir uns beschäftigen", sagt Bela B, "dazu gehören blöderweise auch der Rechtsruck, die rechtspopulistischen Auswüchse der letzten Jahre." Mit Einschränkung: "Alles garniert mit der Albernheit und Leichtigkeit der Ärzte."

Nach acht Jahren ohne Ärzte-Album – die Musiker brauchten gegen den "schleichenden Tod" (Urlaub) "einfach erst mal viel Abstand" (Bela B) – sind nun ganz viel Spielwitz und Ideenreichtum zu finden. Urlaub lässt mit gleich zehn Songs seiner Gestaltungskraft freien Lauf. Seinen Gitarren-Helden Frank Zappa platziert er in zwei Texten plus Gitarrensolo aus Zappas "Wind Up Workin’ In A Gas Station" als musikalisches Zitat in "Warum spricht niemand über Gitarristen?".

Der "Clown aus dem Hospiz" blickt auf die dunkle Seite der Kunst. Einer Theorie zufolge müsse der Künstler immer um Haaresbreite am Abgrund stehen, um produktiv zu sein, sagt Bela B. "Kein Humor funktioniert ohne Tragik. Und ohne tragische Tiefe wären die Ärzte nicht so lustig." Manche Frage lassen die Musiker offen. "Der Songtitel "Fexxo Cigol" bezieht sich auf etwas, was nicht mal Rod weiß, vielleicht auch nicht wissen will", sagte Bela B. Auch die Bedeutung von "EVJMF" sei "ein Insider, das behalten wir für uns". Bassist Gonzales mit Ärzte-Lachen: "Das wird auf meinem Grabstein stehen."

Gerd Roth

•"Hell" erscheint bei Hot Action Records/Universal auf CD, Doppelvinyl und digital

•Konzerte geplant nächstes Jahr am 17. und 18. Dezember 2021, Wiener Stadthalle, 20. und 21. 12.2021, Münchner Olympiahalle