T.C. Boyles Roman "Sprich mit mir"
Der Schimpanse, der Mensch sein wollte

03.02.2021 | Stand 22.09.2023, 0:52 Uhr
Welf Grombacher

Der Roman "Sprich mit mir" erzählt die Geschichte des Schimpansen Lucy nach, der 1964 bis 1987 lebte und wie ein Mensch aufgezogen wurde. Lucy konnte sich mit Menschen verständigen und soll sogar zu einer menschlichen Verhaltensweise fähig gewesen sein: zur Lüge. −Foto: dpa

Bis ins Life-Magazin schaffte es Schimpansin Lucy. Mit einem Glas Gin in der Hand war sie zu sehen, und wie sie ein Playgirl-Heft durchblätterte. Lucy war einer der ersten Primaten, die die menschliche Gebärdensprache erlernten. Der Psychologe Maurice Temerlin und seine Frau Jane unterrichtete sie an der Universität von Oklahoma. Bis Lucy sich mit zwölf nicht mehr in der Familie halten ließ. Was tun? Ganze acht Jahre dauerte die Auswilderung des völlig auf den Menschen geprägten Tieres in Gambia. Die Psychologiestudentin Janis Carter opferte sich dabei regelrecht auf. Ein Jahr nachdem Lucy endlich Anschluss an eine Affengruppe gefunden hatte, fand man im Urwald ihre sterblichen Überreste. Wilderer hatten sie wahrscheinlich getötet und ihr Arme und Beine als Trophäen abgeschnitten.

Der Schimpanse betrachtet sich als Mensch

Von eben jener Lucy hat T. C. Boyle sich zu seinem neuen Roman "Sprich mit mir" inspirieren lassen. Ein trauriges Buch. Nicht weniger traurig als die wahre Geschichte Lucys. Lange schon ist der ehemalige Literatur-Punk ein überzeugter Kämpfer für den Umwelt- und Naturschutz. Mit Büchern wie "Ein Freund der Erde" (2000), "Wenn das Schlachten vorbei ist" (2011) oder "Die Terranauten" (2016) hat er gezeigt wie er auf spannende Weise und ohne zu moralisieren die Leser für ein Thema sensibilisieren kann. Im neuen Roman ist das nicht anders. T.C. Boyle erzählt von dem großen Missverständnis zwischen Mensch und Tier und von der Hybris des Homo Sapiens (lateinisch für verstehender, verständiger), der die Weisheit nur im Namen trägt, in Wahrheit aber so viel zerstört auf diesem Planeten.

Im Roman heißt der Schimpanse Sam und wird unterrichtet von einem Dozenten namens Guy Schermerhorn. Als die Pädagogikstudentin Aimee die beiden im Fernsehen sieht, ist sie sofort hin und weg. Von Sam ebenso wie von Guy. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie bewirbt sich als Pflegerin und entwickelt schnell eine Nähe zu dem schlauen Schimpansen wie niemand sonst. Alles ist wunderbar. Bis die Fördergelder für das Forschungsprogramm auslaufen und der böse Besitzer Professor Moncrief, ebenfalls Verhaltensforscher – der mit schwarzer Augenklappe ein wenig zu überzeichnet ist – seinen Affen zurückhaben will. In einem zweiten Handlungsstrang erzählt T. C. Boyle aus der Innensicht Sams, der sich plötzlich in einem kalten Käfig wiederfindet, die Welt nicht mehr versteht und mit den anderen Affen nichts anfangen kann, die für ihn nur "schwarze Käfer" sind und ihm auf seine Gebärdensprache nicht antworten.

Schon beim Training mit Schermerhorn ordnete Sam die Karte des Affen den Affen zu und die des Menschen den Menschen. Sein Foto aber legt er beständig zu dem, auf dem ein Mensch zu sehen ist. Er fühlt sich als Mensch und ist in Wirklichkeit doch ein tragisches Zwischenwesen, das weder der einen noch der anderen Spezies angehört.

Der 1948 in Peekskill im Bundesstaat New York geborene Tom Coraghessan Boyle spricht das nicht aus, sondern führt es wie in einem spannenden Film vor. Das ist eine Qualität. So weckt er die Empathiefähigkeit seiner Leser und bewirkt, soweit Literatur überhaupt etwas bewirken kann, einen Gesinnungswandel. Um Sam nah zu sein, arbeitet Aimee bald als Pflegerin beim bösen Professor Moncrief in der Schimpansenstation. Sie befreit ihn und flieht, lebt versteckt in einem Trailor auf dem Campingplatz, bis die Situation schließlich in einem Showdown eskaliert. Das alles ist nichts für schwache Nerven.

Tierliebe trägt oft Egoismus in sich

Wie schon im Roman "Das Licht" (2019) über LSD-Guru Timothy Leary taucht Boyle in die Welt der experimentellen Psychologen ein und erzählt von Abhängigkeiten. Dieses Mal von der des Tiers vom Menschen. Viel erstrebenswerter, als dass ein Affe die menschliche Sprache lernt, ist es, seinen natürlichen Lebensraum zu erhalten und ihn Affe sein zu lassen.

Natürlich besitzen Tiere einen Geist. Aber sie sind für eine andere Umgebung gemacht als der Mensch. Das ist der Tenor dieses bewegenden Buches. In dem Moment, in dem wir ein Individuum auf uns prägen, besitzen wir zeitlebens eine Verantwortung dafür. Manchmal werden wir bei all unseren Egoismen dieser Verpflichtung nur schwer gerecht. Egal, ob es sich um einen Affen, Hund oder Wellensittich handelt. Auch T. C. Boyle spürt das jeden Tag, wenn er Ilka anschaut, seine Ungarische Puli-Hündin, die jeden einzelnen seiner Schritte strengstens "überwacht".

Welf Grombacher



•T. C. Boyle: Sprich mit mir. Hanser, 350 Seiten, 25 Euro