"Am Rande der Glückseligkeit"
Badeparadies und Schlachtfeld – Bettina Baltschevs neues Buch handelt von Stränden

08.07.2022 | Stand 20.09.2023, 0:14 Uhr
Anna Wheill

Der Strand hat für Menschen schon seit Hunderten von Jahren eine große Bedeutung. Welche, fasst Autorin Bettina Baltschev in ihrem neuen Sachbuch zusammen. −Foto: Marcus Brandt/dpa

Wo der Horizont nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden ist und das Unendliche unheimlich wird, da ist der Strand. Wo man drei oder vier Stunden auf dem Rücken liegen kann, ohne etwas zu tun und zu denken, wo es nichts zu sehen gibt zwischen Festland und Meer außer Wasser und Sand, da entstand in zweihundert Jahren eine überaus erfolgreiche Art der Sommerfrische. Heute ist das Strandleben aus den Urlaubsträumen nicht mehr wegzudenken, aber wie kam es dazu und wie hat es sich entwickelt?

Bettina Baltschev, 1973 in Ost-Berlin geboren, kannte elegante Strände nur aus Büchern. Aufgewachsen in der DDR, träumte sie mit Francoise Sagan von der Cote d’Azur und dachte: wer weiß, ob ich jemals in meinem Leben da hinkomme! Was sie hingegen erlebte, war der Gruppenabmarsch zum kalten Strand von Usedom im Sommerferienlager. Heute lebt sie in den Niederlanden, und der Strand von Scheveningen, wo schon vor vierhundert Jahren der erste Strandsegler seine eindrucksvolle Fahrt begann, liegt vor ihrer Haustür. Die Niederländer haben ein rustikales Verhältnis zu ihrem Strand, dessen Reize sie erst zu entdecken begannen, als eine Gruppe von Malern anrückte.

Das Reizklima als Therapeutikum für kränkelnde Adelige und Vermögende aus den Städten wurde in Brighton erfunden. Die positive Wirkung von Meerwasser auf die menschlichen Drüsen war bereits 1750 bestätigt worden. Aber was für eine Prozedur mit den Badewägen! Schließlich setzte sich der Brighton Bath Chair durch und der gestreifte Pullover als Kompromiss zwischen Bekleidung und Nacktheit. Ab 1841 verkehrte die Eisenbahn zwischen London und Brighton. Die Kundschaft änderte sich, und das Strandleben wurde eine riesige Kirmes.

Wo Kreti und Pleti Urlaub machten, zogen die besseren Kreise sich zurück und wanderten weiter an den Strand der Normandie. Die Franzosen selbst näherten sich ihrer Küste nur zögerlich. Der erste Eindruck, den man vom Meer erhalte, sei Furcht und Schrecken, schrieb der französische Historiker Michelet 1861. Wie wahr: An der wunderschönen Küste der Normandie hat der amerikanische Fotograf Robert Capa im Juni 1944 am D-Day die Landung der Alliierten festgehalten in Bildern, die dort heute noch präsent sind. "Mit einemmal wehte ein kalter Wind von Angst über den Strand", schrieb Stefan Zweig in Ostende.

In Hiddensee wurde auch geschrieben. Nicht nur Gerhard Hauptmann und Thomas Mann trugen bei zu seinem Ruhm. Wo die Freikörperkultur als eine der größten nichtstaatlichen Bewegungen der DDR entstand und die Soldaten von siebenundzwanzig Grenztürmen aus die Fluchtwilligen einschüchterten, arbeitete Kruso, der legendäre Held des Erfolgsromans von Lutz Seiler. Während Henze, Bachmann und Auden auf Ischia eine Oper schrieben, begann General Franco, sich Gedanken zu machen über die wirtschaftliche Prosperität seines Landes und schuf alle Voraussetzungen für den Massentourismus an der Costa Brava. Bettenburgen wurden hochgezogen und Zimmer belegt, die noch nicht einmal fertig gemauert waren.

Was Millionen von Touristen hinter sich lassen möchten, würden die anderen gerne erreichen, die in Lesbos ankommen. An die Dichterin Sappho denkt hier kaum noch einer. Badeparadies, Zufluchtsort, Sperrzone, Schlachtfeld: Vielstimmig und aufschlussreich ist dieses wunderschöne Buch, das in die Short-List zum Deutschen Sachbuchpreis aufgenommen wurde und dessen Lektüre an jeder Küste eine Bereicherung des Strandvergnügens ist.

Anna Wheill

Bettina Baltschev: Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand, Berenberg Verlag , 280 Seiten, 25 Euro