Alexei Buzu, 40, Arbeits- und Sozialminister der Republik Moldau, spricht im PNP-Interview über den Krieg im Nachbarland Ukraine, die Wiederwahl von Präsidentin Maia Sandu und die Gefahr, die von Russland droht. Und erklärt, warum die Arbeit von Concordia für sein Land, in dem zwei von fünf Kindern in Armut leben, so wichtig ist.
Moldau strebt in die EU. Im Juni diesen Jahres starteten die Beitrittsverhandlungen, im Oktober sprach sich eine knappe Mehrheit der Moldauerinnen und Moldauer in einem Referendum dafür aus, den EU-Beitritt als Ziel in die Verfassung aufzunehmen, im November wurde die pro-europäische Präsidentin Maia Sandu knapp wiedergewählt.
Zum 32. Mal leuchtet heuer „Ein Licht im Advent“, die Weihnachtsaktion der Passauer Neuen Presse. In diesem Jahr unterstützen Ihre Spenden die Arbeit der Hilfsorganisation Concordia in der Republik Moldau. Hier können Sie direkt online spenden. Alle weiteren Infos und Berichte zur Spendenaktion finden Sie hier auf unserer Sonderseite.
Bei ihrer Recherche für die PNP-Weihnachtsaktion „Ein Licht im Advent“ in Moldau trafen PNP-Redakteurin und Projektleiterin Eva Fischl und PNP-Autor Philipp Hedemann den proeuropäischen Politiker Mitte November in seinem Ministerium in der Hauptstadt Chisinau. Dabei erlebten sie einen Politiker, der offene Worte fand – über den Krieg in der Ukraine und Europas Verantwortung, die Gefahr, dass Russland die anstehenden Parlamentswahlen manipuliert und warum die Arbeit von Concordia für sein Land so wichtig ist.
Herr Buzu, welche Auswirkungen hat der Krieg im Nachbarland Ukraine auf die Republik Moldau?
Alexei Buzu: Ich erinnere mich an den ersten Kriegstag. Ich wachte gegen fünf Uhr morgens auf, weil ich Donnern hörte und dachte, dass sich vor meinem Haus ein schwerer Unfall ereignet hätte. Aber da war nichts. Als ich auf mein Telefon schaute, sah ich die Nachricht, dass Russland die Ukraine angegriffen hatte, unter anderem Odessa bombardierte. Odessa ist rund 150 Kilometer von Chisinau entfernt, aber ich konnte die Detonationen hören. Meine erste Reaktion war Angst um meine Familie. Ich dachte über Fluchtwege nach. Denn jeder in Moldawien dachte: Wenn Russland die Ukraine angreift, ist Moldau das nächste Land.
Das könnte Sie auch interessieren: „Lage nochmals verschärft“: Warum Moldaus Kinder jetzt jede Hilfe brauchen
Sie sind dann aber nicht geflohen...
Alexei Buzu: Nein. Stattdessen flüchteten Kinder und Familien aus der Ukraine zu uns, und jede und jeder in Moldau hatte in diesen schrecklichen, aber auch einenden Tagen das Bedürfnis, sie zu unterstützen. Wir Moldauer halfen uns selbst, indem wir den ukrainischen Flüchtlingen halfen. Es war die einzige Möglichkeit, dieser Tragödie einen Sinn zu geben. Ich glaube, wir haben das ganz gut hinbekommen.
Wie kommt Moldau mit dem Zuzug der Flüchtlinge aus der Ukraine klar?
Alexei Buzu: Der Zustrom von Flüchtlingen ist jetzt stabilisiert. Aber wir haben immer noch rund 100 000 Geflüchtete aus der Ukraine im Land. Und die Sozialstruktur der Flüchtlinge ist anders als die der Menschen, die in weiter entferntere Länder wie Deutschland geflohen sind. Menschen, die unter einer chronischen Krankheit wie Krebs leiden, alt oder behindert sind oder kleine Kinder haben, nehmen oft keine langen, strapaziösen Reisen auf sich, sondern fliehen an den nächsten sicheren Ort. Viele von ihnen haben deshalb Zuflucht in Moldau gesucht. Diese Flüchtlinge sind schwer in Arbeit zu bringen und zu integrieren. Der Druck auf unsere ohnehin schwachen Systeme ist entsprechend groß – aber wir schaffen das. Die überwältigende Mehrheit der Moldauer unterstützt die Flüchtlinge nach wie vor. Die Solidarität ist hoch. Darauf können wir stolz sein.
Lesen Sie dazu auch: PNP-Spendenaktion 2024: Grußwort von Schirmherr Tobias Moretti
Erhält die Ukraine im dritten Kriegswinter ausreichend Unterstützung?
Alexei Buzu: Nein! Es herrscht Krieg, aber Europa scheint das nicht zu verstehen. Dabei muss man sich in Kriegszeiten wie in Kriegszeiten verhalten. Man muss Opfer bringen! Man muss schwierige Entscheidungen treffen! Man muss Mut zeigen! Daran mangelt es außerhalb der Ukraine. Ich war im April in Kyjiw. Ich blieb zwei Nächte. In der zweiten Nacht musste ich im Bunker schlafen. Gegen 1 Uhr nachts erklangen die die Nacht zerreißenden, sehr angsteinflößenden Sirenen. Als ich zum Luftschutzbunker rannte, waren meine ersten Gedanken: Wo ist mein Sohn? Wo ist meine Frau? Was ist mit meinen Eltern? Viele Ukrainerinnen und Ukrainer werden jeden Tag von dieser Angst geplagt.
Was hat Sie in der Ukraine am meisten beeindruckt?
Alexei Buzu: Ich war in Butscha. Als die durch das schreckliche Massaker bekannt gewordene Stadt befreit wurde, wurde hinter der Kirche ein Massengrab gefunden. In einer Gedenkstätte sind dort die Namen aller bislang identifizierten Opfer aufgelistet. Dort wird auch einer Anastasia Stschastliwa (auf Deutsch bedeutet der Nachname Glücklich) gedacht. Sie wurde im Jahr 2014 geboren und im Jahr 2022 ermordet. Meine Botschaft an die europäischen Bürger ist deshalb: Krieg ist Krieg. Menschen sterben. Kinder sterben. Und so müssen wir auch handeln.
„Das europäische Projekt ist real“
Im Herbst ist in Moldau die proeuropäische Präsidenten Maia Sandu knapp wiedergewählt worden. Was bedeutet das für Ihr Land?
Alexei Buzu: Die Wiederwahl Maia Sandus zeigt, dass das europäische Projekt real ist. Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Noch nie hat Moldau von außen so eine große Unterstützung erfahren. Das ist für uns eine einzigartige Gelegenheit. Zugleich war Moldau noch nie so sehr in Gefahr.
Warum ist die Republik Moldau in Gefahr?
Alexei Buzu: Bei der Präsidentschaftswahl und dem Referendum darüber, ob das Ziel des EU-Beitritts in die Verfassung aufgenommen werden soll, sagten alle Meinungsumfragen im Land eine Zustimmung von 65 bis 70 Prozent für den proeuropäischen Kurs voraus. Aber wir haben das Referendum im Land verloren. Nur mit Hilfe der Wähler in der Diaspora konnten wir das Referendum doch noch knapp für uns entscheiden.
„Wenn jemand in der Lage ist, 15 bis 20 Prozent der Wählerschaft zu kaufen, gibt es keine Demokratie“
Warum haben so viele Moldauer trotz der großzügigen europäischen Unterstützung gegen eine EU-Mitgliedschaft gestimmt?
Alexei Buzu: Wir haben das Referendum im Land nicht verloren, weil die Menschen sich gegen die EU gewandt haben, sondern weil etwa 15 bis 20 Prozent der Wähler von Russland dafür bezahlt wurden, gegen die EU zu stimmen. Nach Schätzungen hat Russland mindestens zwei Prozent unseres Bruttoinlandproduktes aufgebracht, um Stimmen zu kaufen, Fehlinformationen zu verbreiten, politische Parteien zu unterwandern und Kandidaten zu bestechen. Wenn jemand in der Lage ist, 15 bis 20 Prozent der Wählerschaft zu kaufen, gibt es keine Demokratie. Aber im nächsten Jahr stehen bei uns Parlamentswahlen an, und es gibt kein wirksames Mittel, um zu verhindern, dass Russland wieder Stimmen kaufen wird. Dazu müsste man Moldau abschotten und dafür zu sorgen, dass kein Geld reinkommt, man müsste Moldau in ein zweites Nordkorea verwandeln – aber das ist natürlich keine Option. Dabei wird die nächste Wahl für uns existenziell.
Warum wird die Parlamentswahl 2025 für Moldau existenziell?
Alexei Buzu: Sollte es Russland gelingen, die Wahl mit gekauften Stimmen zu gewinnen, wird es in der Lage sein, unser System zu korrumpieren. Wenn Russland in Moldau eine Marionettenregierung installiert, ist alles verloren, dann verlieren wir die einmalige Chance, unser Land auf demokratische Weise zum Teil der EU zu machen. Das beunruhigt mich sehr.
„Deutschland hat in Europa eine Führungsrolle“
Was erwarten Sie von der deutschen Regierung in dieser kritischen Situation?
Alexei Buzu: Deutschland war das erste Land, das der Republik Moldau nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Mittel zur Verfügung gestellt hat, die wir unter anderem dazu genutzt haben, die Menschen bei den sprunghaft gestiegenen Energiekosten zu unterstützen. Deutschland hat in Europa eine Führungsrolle. Wir erwarten, dass es diese Rolle einsetzt, um Moldau und die Ukraine weiterhin zu unterstützen.
Wie geht es den Kindern in der Republik Moldau?
Alexei Buzu: Bis zum russischen Überfall auf unser Nachbarland ist es uns in den letzten 20 Jahren gelungen, die Armut zu bekämpfen. Aber der Krieg und die dadurch ausgelöste Flüchtlingskrise sowie die hohe Inflation haben viele Familien wieder unter die Armutsgrenze rutschen lassen. Jetzt leben 40 Prozent der Kinder in Moldau in Armut. Das wäre für jedes Land eine moralische Krise. Für Moldau ist es eine nationale Schande, eine nationale Krise mit langfristen Folgen. Denn Armut wirkt sich darauf aus, welchen Zugang Kinder zu Bildung haben, wie sie lernen und wie sie sich entwickeln können. Wir müssen den Teufelskreis aus generationsübergreifender Armut durchbrechen.
In Moldau leiden viele Kinder darunter, dass ihre Väter und Mütter ins Ausland gehen, um dort Geld für die Familie zu verdienen. Was tut die Regierung, damit mehr Kinder in vollständigen Familien aufwachsen können?
Alexei Buzu: Unser Mantra ist: Das wirksamste Kinderschutzprogramm ist die Schaffung gut bezahlter Arbeitsplätze in Moldau. Darum bemüht die Regierung sich intensiv. Die Beschäftigung von Frauen in Moldawien hat so den höchsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht. Daten aus anderen Ländern wie den baltischen Staaten und Polen zeigen jedoch, dass die Arbeitsmigration erst signifikant zurückgeht, wenn rund 70 Prozent des Brutto-Inland-Produktes der EU erreicht werden. Unser BIP liegt aktuell bei 29 Prozent des durchschnittlichen Brutto-Inland-Produktes in der EU. Wir müssen uns also anstrengen, diesen Wert so schnell wie möglich mindestens zu verdoppeln. Bis dahin müssen wir sicherstellen, dass Kinder, deren Eltern zum Arbeiten ins Ausland gehen, von unserem Sozialsystem erfasst und bestmöglich unterstützt werden.
Warum sollten unsere Leserinnen und Leser Concordia mit ihrer Spende unterstützen?
Alexei Buzu: Weil Concordia bei der Bekämpfung der Armut, vor allem der Kinderarmut, in Moldau eine sehr zentrale Rolle spielt. Erstens springt Concordia da ein, wo die Regierung nicht die Kapazitäten hat. Concordia ist in vielen Regionen Moldaus der einzige bedeutende Anbieter sozialer Dienstleistungen. Und zweitens sorgt Concordia dafür, dass die Regierung die Probleme armer Kinder erkennt und Strategien zu ihrer Lösung entwickelt. Arme Kinder hatten in meinem Land lange keine Lobby. Concordia hat ihnen eine gut zu vernehmende Stimme gegeben. Um noch mehr Kindern noch besser helfen zu können, ist Concordia dringend auf Unterstützung angewiesen.
Das Interview führten Eva Fischl und Philipp Hedemann.
Artikel kommentieren