Weil sie zuhause um ihr Leben fürchten mussten, haben die Behörden Igor* (8) und Marian* (10) bei Concordia untergebracht. Die Hilfsorganisation hat für die Brüder nun eine Pflegefamilie gefunden und setzt alles daran, damit der taube Igor wieder hören kann.
Zum 32. Mal leuchtet heuer „Ein Licht im Advent“, die Weihnachtsaktion der Passauer Neuen Presse. In diesem Jahr unterstützen Ihre Spenden die Arbeit der Hilfsorganisation Concordia in der Republik Moldau. Hier können Sie direkt online spenden. Alle weiteren Infos und Berichte zur Spendenaktion finden Sie hier auf unserer Sonderseite.
Marian nickt seinem kleinen Bruder zu, formt mit den Fingern eine Geste und sieht den kleinen Igor fragend an. Der Achtjährige zuckt mit den Schultern, lächelt dann und antwortet mit einer schnellen Handbewegung zurück. Worüber sich die Brüder gerade unterhalten, das versteht niemand außer den beiden. Marian und Igor haben eine eigene Zeichensprache entwickelt, um miteinander kommunizieren zu können. Denn der Kleine kann nicht hören – und hat deshalb auch nie gelernt, richtig zu sprechen.
„Ich möchte, dass er mich hört. Damit er versteht, was ich meine, und mir antworten kann“, sagt Marian. Der Grund für Igors Taubheit ist unbekannt. Die Eltern der Brüder sind mit dem Kind nie zum Arzt gegangen. Marian erklärt es sich in seinem kindlichen Verständnis mit den ständigen Prügeln des Vaters. „Er wurde taub, weil mein Vater ihn geschlagen hat“, erzählte der Junge den Mitarbeitern von Concordia, die Marian und Igor betreuen, seit die Behörden sie zu ihrem Schutz aus ihrer Ursprungsfamilie nahmen.
Narben, Striemen, blaue Flecken am ganzen Körper
Wahrscheinlicher ist, dass unbehandelte Entzündungen im Ohr langsam dazu geführt haben, dass der Junge nicht mehr hört. Die Brüder wuchsen bei alkoholkranken Eltern in einem gewalttätigen Umfeld auf. Die Sozialarbeiter von Concordia lernten die Familie kennen, als sie warme Mahlzeiten an besonders bedürftige Familien verteilten. Doch schnell wurde klar, dass es den Brüdern nicht nur an Essen fehlte, sondern die Kinder in ihrem Zuhause jeden Tag noch ganz anderen Gefahren ausgesetzt waren.
Als die Behörden die Brüder abholten, fanden sie die Kinder bei stockbetrunkenen Eltern in einem finsteren, heruntergekommenen Haus vor. Die Stromrechnung war seit Monaten nicht bezahlt, und es gab nicht einmal ein Stück Brot im Haus. Dafür hatten die Kinder Narben, Striemen und blaue Flecken am ganzen Körper.
„Marian erzählt nicht oft von zuhause“, sagt Eugenia Turculet. „Und wenn, dann ist es nichts Gutes.“ Concordia hat die Brüder im Herbst vorübergehend in die Obhut der 66-Jährigen gegeben. Die Witwe, die in Cirnesti, einer Ortschaft im Westen der Republik Moldau unweit der rumänischen Grenze, wohnt, hat schon in der Vergangenheit immer wieder Pflegekinder betreut. Bei ihr sollen die Kinder erst mal zur Ruhe kommen, spielen, lernen, einfach nur Kinder sein.
„Im September ist ihre Mutter gestorben, sie waren auch auf der Beerdigung“, erzählt Eugenia Turculet. „Zu ihrem Vater haben sie keinen Kontakt, er hat kein Interesse an den Kindern, und das ist auch besser so“, findet Eugenia und drückt beide an sich. In den wenigen Wochen, in denen die Brüder bei ihr untergebracht waren, haben sie vermutlich mehr Liebe erfahren als in all den Jahren zuvor. Der Kleine kuschelt sich an die herzliche Frau mit der roten Brille. Im Haus ist es an diesem kalt-trüben Novembertag mollig warm, die Kinder sitzen auf einem großen Bett, am Kopfende sind Decken und Kissen gestapelt. Jeder Winkel des Raumes strahlt Wärme und Gemütlichkeit aus.
„Ich möchte sie nichts vermissen lassen“, sagt die 66-Jährige, und lächelt, als sich Igor in der Küche Bonbons holt und auch seinem älteren Bruder eins davon zusteckt. „Sie lieben Süßigkeiten − und Salami.“ Als die Behörden die beiden Buben zu Concordia brachten, waren beide mangelernährt, sie haben Wachstumsverzögerungen und kämpfen mit gesundheitlichen Problemen. „Sie brauchten Medizin gegen Parasiten im Bauch“, erzählt Eugenia Turculet. „Ich wünsche mir, dass es den beiden bald wieder so richtig gut geht und dass Igor wieder hören kann“, sagt die 66-Jährige.
Ihre Kräfte werden nicht ausreichen, die Kinder bis ins Erwachsenenalter zu begleiten. Deshalb bemüht sich Concordia um eine andere, langfristige Lösung.
Um eine realistische Einschätzung von Igors Gesundheitszustand zu erhalten, hat sich Concordia inzwischen mit den lokalen Behörden und Ärzten ausgetauscht. Spezialisten sollen den Jungen untersuchen und feststellen, ob ihm mit einer Operation geholfen werden kann, ob es Behandlungsmethoden oder Implantate gibt, die dem Jungen helfen können, zumindest einen Teil seines Gehöres zu retten.
Tests sollen zeigen, ob Igor operiert werden kann
„Igor hatte sich einen schweren Erkältungsinfekt eingefangen, er war ziemlich schwach und musste jetzt im Krankenhaus mit Antibiotika behandelt werden“, berichtet Tatiana Balta, Landesdirektorin von Concordia in Moldau, Mitte Dezember. „Momentan erholt er sich. Er muss erst wieder zu Kräften kommen, bevor überhaupt ein chirurgischer Eingriff gemacht werden kann. Vorher muss er sich einer Reihe von Tests unterziehen. Wenn die Resultate gut ausfallen, dann können wir eine Operation angehen“, erklärt die Chefin der Hilfsorganisation.
Wieder hören zu können, endlich ohne Zeichensprache miteinander kommunizieren zu können – für den tauben Igor und seinen Bruder Marian wäre es das schönste Weihnachtsgeschenk.
Dass alles gut wird, hofft auch Tatiana Balta. Sie und ihr Team haben inzwischen eine junge Pflegefamilie gefunden, die beide Brüder aufgenommen hat. „Uns war es wichtig, dass sie zusammenbleiben können“, sagt Balta. „Die Pflegeeltern sind daran interessiert, die Kinder zu adoptieren“, erzählt die Direktorin.
Und so scheint es, dass sich kurz vor Weihnachten doch noch ein kleines Happy End für Igor und Marian abzeichnet. Nach all den Jahren ohne Liebe und Fürsorge werden sie zum ersten Mal ein richtiges Weihnachtsfest erleben – ohne Gewalt, ohne Angst, im geschützten Kreis einer Familie, die diesen Namen auch verdient.
* Die Namen der Kinder wurden aus Kinderschutzgründen von der Redaktion geändert.
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