Kirchenparlament in Würzburg
Missbrauchsbetroffene wollen zügige Reformen in der Kirche

11.11.2024 | Stand 11.11.2024, 18:20 Uhr |

Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland - Proteste - Betroffene üben Kritik an der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche. - Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Täter in evangelischen Pfarrhäusern wurden lange geschützt, Opfer von Übergriffen ignoriert. Das stellte eine unabhängige Studie Anfang des Jahres fest. Welche Konsequenzen zieht die Kirche?

Die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geht aus Sicht von Betroffenen immer noch zu schleppend voran. Das wurde auf der Jahrestagung der EKD-Synode in Würzburg deutlich. Eine Studie unabhängiger Wissenschaftler hatte Anfang des Jahres gravierende strukturelle Mängel festgestellt. Demnach wurden jahrzehntelang Täter aus Pfarrhäusern und kirchlichen Einrichtungen geschützt, Opfer von Übergriffen nicht gehört. 

Mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter wurden in der sogenannten Forum-Studie dokumentiert. Diese Fälle sind dem Forschungsverbund zufolge nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“. 

Kritik: „Nicht alle Kräfte mobilisiert“

Betroffenen-Sprecher Detlev Zander sagte vor den 128 Synoden-Mitgliedern: „Die Spitze der Spitze des Eisbergs hat die Kirche nicht in dem Maße erschüttert, wie es nötig wäre. Es sind nicht alle Kräfte mobilisiert worden.“ Stattdessen gebe es immer noch Schockstarre und den Wunsch, dass es zwar Veränderungen geben solle, aber bitte nicht zu viele, kritisierte Zander. Über sein Aufwachsen in einem evangelischen Kinderheim in Korntal (Baden-Württemberg) hat Zander ein Buch geschrieben. Dort sei er jahrelang vergewaltigt worden.

Trotz der Kindheit in der „Hölle“, wie er es nannte, engagiert sich Zander im EKD-Beteiligungsforum, in dem Betroffene und Kirchenvertreter sitzen. In dem von der Kirche eingesetzten Gremium wurden zwölf Maßnahmen als Konsequenzen aus der Forum-Studie entwickelt. Zu ihnen zählt die Schaffung einer zentralen unabhängigen Ombudsstelle, die Menschen, denen als Minderjährige Gewalt angetan wurde, im Konflikt mit Stellen der Kirche oder Diakonie unterstützen soll. Geplant sind außerdem die Überarbeitung der Gewaltschutzrichtlinie und die Verankerung des Themas in der Aus- und Weiterbildung.

Kirche will Rechte von Betroffenen stärken

Darüber hinaus sollen die Rechte von Missbrauchsbetroffenen im Disziplinarrecht gestärkt werden, eine Reform ist geplant. Sie werden unter anderem auch das Recht bekommen, persönlich gehört zu werden. „Wir versuchen, glaubwürdig aufzuarbeiten und systemische Gefahren zu erkennen, wollen Menschen schützen“, sagte die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs zum Auftakt der bis Mittwoch dauernden Tagung. 

Einige Betroffene, die nicht im Beteiligungsforum der EKD organisiert sind, protestierten vor dem Kongresszentrum in Würzburg. Die Initiative „Vertuschung beenden“ fordert die Einbeziehung kirchenferner Betroffener und eine bessere Falldokumentation. Nach der Veröffentlichung der unabhängigen Forum-Studie habe etwa die Landeskirche Hannover die Fallzahlen deutlich nach oben korrigiert. 

Einheitliche Standards für Zahlungen geplant

Für die Forum-Studie waren weit überwiegend Disziplinarakten ausgewertet worden. Nur eine sehr kleine Landeskirche stellte alle Personalakten zur Verfügung, nach eigenen Angaben war dies die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz im ostfriesischen Leer. Die EKD ruft nun alle Landeskirchen dazu auf, alle Personalakten nach einem gemeinsamen Standard und unter Aufsicht der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen zu prüfen. 

Die Kommissionen sollen 2025 an den Start gehen. Sie sollen auch dafür sorgen, dass es einheitliche Standards bei den freiwilligen Zahlungen zur Anerkennung des Leids gibt. Eine entsprechende Richtlinie wird laut EKD voraussichtlich im Frühjahr 2025 beschlossen. Bisher hätten vor allem ehemalige Heimkinder zu geringe Anerkennungsleistungen von der Kirche erhalten, kritisierte die Initiative „Vertuschung beenden“. 

Die Besucherplätze im Tagungszentrum waren zum Auftakt gut gefüllt. Die Präses der Synode, Anna-Nicole Heinrich, wandte sich an die Besucherinnen und Besucher, von denen einige ebenfalls sexualisierte Gewalt in der Kirche erfahren haben. „Ich habe großen Respekt, dass Sie sich auf den Weg nach Würzburg gemacht haben. Gut, dass Sie hier sind“, sagte Heinrich. 

Die Psychologin Julia von Weiler trug als unabhängige Expertin Stimmen von namentlich genannten Betroffenen aus dem Publikum vor. Diese schilderten, sie seien von kirchlichen Stellen als Zumutung betrachtet und zurückgewiesen worden. „Ich fühle mich bevormundet und respektlos behandelt“, habe ein ehemaliges Heimkind gesagt. „Ich habe richtig Angst, später mal in ein Pflegeheim zu kommen. Das überlebe ich nicht.“

© dpa-infocom, dpa:241111-930-285181/5

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