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Leben in der Fußball-Arena in Lviv: Sport als Trauma-Therapie

22.12.2022 | Stand 17.09.2023, 7:39 Uhr |

Zumindest etwas weihnachtliche Stimmung soll der Christbaum im großem Schlafsaal im Stadion von Lviv vermitteln. −Fotos: Huber

Die Fußball-Arena Lviv beherbergt seit dem russischen Überfall Hunderte von geflüchteten Ukrainern. Eine von ihnen ist Katharina (13). Sie geht in der Unterkunft ihrer großen Leidenschaft nach: dem Fußball.



Kaum ein Jahr ist es her, dass sich im 3. Stock der Fußball-Arena von Lviv gutbetuchte Fans vor dem eindrucksvollen Panoramafenster teure Speisen schmecken ließen. Doch das VIP-Restraunt ist verschwunden. Die Bar mit dem perfekten Stadionblick schenkt keine Getränke mehr aus und auf dem Spielfeld rollt nur noch selten der Ball. Heute zieren in kleinem Abstand Matratzen, Kleidung und Hygieneartikel den edlen Paketboden. Kinder wuseln durch die schmalen Zwischenräume. Die sogenannten Skyboxen, private Refugien der Fußball-High-Society, bieten stillenden Müttern etwas Privatsphäre in dem sonst so überfüllten Raum. Das nur elf Jahre alte, ehemalige EM-Stadion von Lviv ist heute eine Zufluchtsstätte für geflüchtete Ukrainer.

Der europäische Fußball hält zusammen

Geflüchtete, wie Katharina. Sie ist 13 Jahre alt. Ihre hell-rötliche Pony-Frisur und die Schutzmaske geben nur wenig von ihrem Gesicht preis. Ihren Nachnamen möchte Katharina, wie viele Schutzsuchende hier, nicht verraten. Einige von ihnen haben noch Verwandte in der alten Heimat im Osten, die sie schützen wollen.

Katharina lebt bereits seit April hier in Lviv. Nach Kriegsbeginn musste sie ihr Zuhause in der Region Donezk verlassen. Täglich hätten die Sirenen geheult, erzählt sie mit leiser Stimme. Häuser seien zerstört worden, viele Explosionen habe sie gesehen. Also blieb ihrer Familie nur die Flucht nach Westen. Dorthin, wo es noch einigermaßen sicher ist. Dennoch: Die Angst habe ihr auch nach der Flucht noch lange Zeit tief in den Knochen gesteckt. Erst die vielen Aktivitäten und vor allem ihre große Leidenschaft, der Fußball, halfen ihr über diese schwierige Phase hinweg.

Möglich machte dies der Fußballverein Schachtar Donezk. Der Profi-Club mit diversen Champions-League-Teilnahmen stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung. Die Mitarbeiter, die vormals Mannschaft und VIP-Gäste betreuten, engagieren sich heute Vollzeit für die Schutzsuchenden. Andere europäische Top-Clubs wie Benfica Lissabon unterstützen den Club, der den Geflüchteten auch mit Verpflegung, Hygieneartikeln und medizinischer Versorgung hilft. Und Jugendliche wie Katharina dürfen ihrem Hobby nachgehen.

Inzwischen spielt sie regelmäßig auf einem Spielfeld in der Nähe der Arena, der Hauptplatz im Stadion ist vorerst gesperrt. Dafür dürfen sie und die anderen Fußball-begeisterten Jugendlich immer wieder mit den Erwachsenen trainieren. Sie habe viel gelernt, Freunde gefunden und fühle sich inzwischen wohler, erzählt Katharina.

Ein zumindest in Teilen geregelter Alltag. Freizeitaktivitäten. Etwas Privatsphäre. All das konnte sich Sarah Easter von der Hilfsorganisation CARE Deutschland im April noch nicht ansatzweise vorstellen. Im Frühjahr sei sie bereits hier gewesen, erzählt sie. Chaotische Zustände mit Tausenden orientierungslosen Flüchtlingen prägten damals das Bild in und um das Stadion. Die Behörden nutzten das Gelände als Anlaufstelle für Menschen aus dem gesamten Land, als Logistikzentrum und Notunterkunft.

CARE unterstützt noch immer tatkräftig



Hilfsorganisationen wie CARE unterstützen die Einrichtung im Erdgeschoss des Stadions noch immer tatkräftig, stellen Gelder zur Verfügung. Die Verwandlung gleicht für Sarah Easter einem Wunder. Mit der Unterkunft von Schachtar Donezk arbeitet CARE nur teilweise zusammen. Der Verein betreibt das Aufnahmelager im dritten und vierten Stock des Stadions auf eigene Faust.

In dem großen Schlafsaal, dem einstigen VIP-Restaurant mit tollem Panoramablick lebt auch Vica. Sie ist 46 Jahre alt und kam Mitte August im Stadion unter. Geflohen ist sie aus der Nähe von Nikopol unweit des umkämpften Atomkraftwerks Saporischschja, von dessen Gelände sie nur vier Kilometer entfernt gewohnt habe, erzählt sie. Dauernd hätten die Russen aus dem Schutz der Meiler heraus auf ihre Heimat geschossen. Sie blieb dennoch mehrere Monate – solange, bis sie dort keine Zukunft mehr sah.

Im Stadion hingegen gehe es ihr gut. Dass sie jemals als Geflüchtete an einem Ort wie diesem landet, habe sie sich nie vorstellen können. Dennoch: „Ich bin sehr dankbar für die Hilfe hier“, sagt Vica. Ob sie ihre alte Heimat je wieder sehen wird, weiß sie noch nicht. Sie lebe von Tag zu Tag.

Rund 200 bis 250 Menschen versorgt Schachtar Donezk auf den beiden Ebenen, sagt Yulia Shatokina. Die mit blauem Kleid und hohen Stiefeln elegant gekleidete Frau war früher im Veranstaltungsmanagement des Clubs tätig, nun ist sie für die Unterkunft verantwortlich. Manche der Schutzsuchenden bleiben nur zwei bis drei Tage, sagt Shatokina. Andere, wie etwa Katharina, sind mehrere Monate hier. Sie erklärt auch, weshalb an diesem Mittwochvormittag alle Masken tragen. Das sei nicht immer so, doch stünden heute medizinische Untersuchungen auf dem Plan. Und bei so vielen Leuten auf begrenztem Raum sei generell Vorsicht geboten.

Geflüchteter Verein hilft Geflüchteten

Für ihren Verein, sei die Hilfseinrichtung ein Herzensprojekt gewesen, sagt Shatokina. Vor acht Jahren musste der Club selbst aus der eigenen Heimspielstätte in Donezk fliehen. Die Scharmützel in der Region machten bereits 2014 friedliche Fußballfeste unmöglich. Zuflucht fanden die Spieler aus dem Osten unter anderem in Lviv. Seit dem russischen Überfall im Februar trägt die Profi-Mannschaft ihre Heimspiele in Warschau aus. Ein geflüchteter Verein hilft anderen Geflüchteten. „Wir haben neue Erfahrungen gesammelt“, sagt Shatokina.

Und die brauchen die Verantwortlichen nun dringend. Der Winter steht vor der Tür und noch immer fehlt es an genügend Generatoren für eine sichere Stromversorgung. Das sei derzeit das drängendste Problem. Doch der Verein macht weiter – und hilft. Für Shatokina steht ohnehin schon lange, schon seit der eigenen Flucht fest: „Wir müssen immer positiv bleiben.“ Auch im Kriegswinter.

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