PNP-Spendenaktion
Leben im Krieg: Weihnachten im Flüchtlingskeller in Lviv

23.12.2022 | Stand 17.09.2023, 6:57 Uhr |

Not macht erfinderisch: Die Schwestern Julia (Mitte) und Daria (2.v.l.) versuchen ihren Kindern Mykhailo, Ulyana (2.v.r.) und Ksenia ein möglichst normales Leben zu bieten. Doch sie müssen sich einschränken. Puzzles und Brettspiele ersetzen bei ihnen in der provisorischen Flüchtlingsunterkunft Konsole und teures Spielzeug. −Fotos: Huber

Julia (32) lebt mit ihren beiden Kindern seit drei Monaten in einem
ausgebauten Keller in Lviv. Sie mussten ihr gesamtes Leben zurück lassen. Die Familie floh aus der Region Cherson - aus russischem Besatzungsgebiet. An Weihnachten sind sie vor allem dankbar, überlebt zu haben.




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Plötzlich war sie da, die große Weltpolitik – samt Krieg und Bombenterror. Nur einen Monat nach Beginn des russischen Angriffs rollten die Panzer durch die Idylle des beschaulichen Küstenörtchens Skadovsk am Schwarzen Meer. Die Strandliegen entlang der weitläufigen Promenade wichen Minen, die Badegäste den Soldaten. Die Stadt stand unter Besatzung. Und obwohl das unheimliche Grollen der Artillerie und die Luftschläge die Kreml-Truppen bereits angekündigt hatten, war der Krieg nun unmittelbar an Julias Haustüre vorgedrungen. Ihr Leben stand Kopf. Doch die junge Mutter wollte immer bleiben, wollte sich und ihren Kindern die Heimat bewahren. Ein halbes Jahr russischer Besatzung änderte ihre Meinung.

Stromausfall. Immer wieder Stromausfall



Anfang Dezember lebt Julia seit gut drei Monaten in Lviv, der stolzen Metropole im Westen des Landes und Zufluchtsort Hunderttausender Binnenflüchtlinge. Julia ist 32 Jahre alt, hat schulterlange braune Haare, ist geschieden und hat sich an diesem Mittwochmorgen mit einem dicken Wollpullover warm angezogen. Denn: In ihrer winzigen Kellerwohnung, einem Souterrain im Zentrum von Lviv, ist es kühl. Der Eingang fungiert zugleich als Tür zum Wohnzimmer. Noch im Sommer war hier ein Leben unvorstellbar, erst das „Center Women’s Perspectives“, eine Partnerorganisation von CARE Deutschland, hat die drei Räume ausgebaut und der Familie zur Verfügung gestellt. Weil Julia noch immer Verwandte in ihrer Heimat hat, möchte sie ihren vollen Namen nicht verraten, zu groß ist die Angst vor Repressionen.

An diesem Morgen ist es dunkel in der Kellerwohnung – wieder einmal haben die russischen Luftattacken zum Stromausfall geführt. Kisten, Schuhe, Kinderspielzeug und vieles mehr stehen neben dem grauen Sofa, direkt am Eingang. Stauraum: Fehlanzeige. Der kleine runde Esstisch ragt einige Zentimeter über die Couch. So komprimiert leben Julia und ihre Schwester, zusammen mit drei Kindern in der Wohnung.

Kleiner Adventskalender mit Rentiermotiv



Wie in Deutschland schmücken für gewöhnlich auch in der Ukraine zu dieser Jahreszeit Lichterketten und funkelnde Weihnachtsdekors die Häuser. In Julias Wohnung gibt es lediglich einen kleinen Adventskalender mit Rentiermotiv und eine kaum erkennbare Lichterkette – weihnachtliche Feigenblätter. An mehr ist nicht zu denken. Die einzige Lichtquelle ist an diesem Morgen eine grünlich strahlende Taschenlampe. Fenster gibt es nicht, nur die Eingangstür mit Frontscheibe lässt nach Sonnenaufgang etwas Tageslicht in den Raum. Dennoch: „Ich bin froh hier zu sein“, sagt sie. Hier ist es vergleichsweise sicher.

Anders sei die Lage in ihrer Heimat, einer winzigen Ortschaft unweit der Stadt Skadovsk. Dort habe sie ihren beiden Kindern, der fünfjährigen Tochter Ulyana und ihrem 14-jährigen Sohn Mykhailo keine Zukunft mehr bieten können, sagt Julia. Die Spirale der Kriegsgräuel drehte sich unaufhörlich weiter.

Alarmanlagen gab es nicht



Regelmäßig schlugen Ende Februar erst Raketen und Bomben in der Region ein. Alarmanlagen gab es nicht, unvermittelt trafen die Angriffe die Zivilbevölkerung. „Man wacht morgens auf und dankt Gott, dass man noch lebt“, sagt Julia. Dann kamen die Soldaten. Anfangs setzten sich die Bewohner zur Wehr, verdrehten Straßenschilder, um die Angreifer zu verwirren. Manche bastelten Sprengsätze, sogenannte Molotov Cocktails. Doch die Besatzer blieben. Sie besetzten Schulen und Behörden, installierten Flugabwehrsysteme. Damit schossen sie auf Julias Landsleute in der Ukraine, erzählt sie.

Außer für Einkäufe verließ die junge Mutter zu der Zeit kaum den Keller ihres alten Hauses. Allerdings stiegen die Preise, aus den Geldautomaten war kaum Bares zu bekommen. Ihre Arbeit im lokalen Gericht musste Julia aufgeben und auch ihre Kinder blieben zuhause. Schließlich boten sogar die russischen Besatzer der Zivilbevölkerung Hilfe an, doch das Gros der Menschen lehnte ab. Zu tief saß der Frust und der Zorn über den Überfall.

Julia erzählt ihre Geschichte detailreich, schildert auch belastende Erinnerungen. Es wirkt, als sei sie froh, endlich über all das Grauen sprechen zu können. Denn mit fortschreitender Besatzung verschlechterte sich die Lage.

Besatzer wurden restriktiver



Anfangs seien die Russen der ukrainischen Kultur und der Sprache aufgeschlossen gewesen, sagt sie. Doch die Besatzer wurden restriktiver. Nach einer Weile standen Hausdurchsuchungen an der Tagesordnung. Und schließlich stellten die Besatzer Julia vor eine Entscheidung, die sie zum Verlassen ihrer Heimat bewog.

Ende August stand das neue Schuljahr vor der Tür. Wie hierzulande, beginnt es im September. Also registrierten die Behörden ihre Kinder. Doch eine russische Schule stand für Julia außer Frage. Dort rechnete sie mit massiver Propaganda und Umerziehung, die alles Ukrainische, ihre Identität, auszulöschen versuche. Doch die Alternative war schlimmer und die Ansage klar: Wenn Julia sich weigere, ihre Kinder zur Schule zu schicken, dann verliere sie das Sorgerecht. Die Besatzer drohten, Ulyana und Mykhailo auf die Krim zu schicken, sie ihrer Mutter zu nehmen. „Ich war hoffnungslos“, sagt Julia.

Also entschloss sie sich zu fliehen – samt ihrer Kinder. Sie packte das Nötigste ein. Handy. Etwas Kleidung. Mit ihrem letzten Geld bezahlte sie einen Fahrer, der sie wegbringen sollte. Die Familie passierte Dutzende russische Checkpoints, schlief mehrere Nächte unter freiem Himmel. Julia sagt: „Wir waren der russischen Willkür ausgesetzt. Sie hätten auch schießen oder einfach niemanden durchlassen können.“

Tochter (5) wird von Psychiater betreut



Wie erklärt man das den Kindern? „Der Sohn hat alles verstanden“, sagt sie. Für die Tochter sei es jedoch hart gewesen, sie hatte viel Angst. Inzwischen sei sie beim Psychiater, um das Erlebte zu verarbeiten.

In Lviv angekommen, empfing Julias Schwester Daria das Trio. Sie ist 29 Jahre alt, ihre Tochter Ksenia sechs. Die beiden erzählen eine ähnliche Gesichte wie Julia. Auch sie mussten fliehen, mussten auf ihrer Reise nach Westen an viel russischem Militär vorbei. Ein Unterschied: Darias Ehemann kämpft für die Ukraine an der Front. Deshalb habe sie ihrer Tochter beibringen müssen, zu lügen. Sie solle den Russen sagen, dass ihr Vater tot ist, erzählt sie. Dass ihre Schwester nun bei ihr lebt, beruhigt sie. Beide hätten Schreckliches erlebt und beide seien froh, hier zu sein, sagt Daria.

Wie es weitergeht, wissen die Schwestern nicht. „Wir machen keine Pläne mehr, leben von Tag zu Tag“, sagt Julia. Vorerst sind sie mit den Kindern in relativer Sicherheit. Für die Kleinen versuchen sie vieles zu ermöglichen. Einen Zoo-Besuch. Wandern in den Bergen. Ausflüge. Julias neuer Online-Job hilft bei der Finanzierung des Alltags. Sie machen Kurzzeitpläne, mehr nicht, sagt Julia. Ob sie ihre Heimat, das kleine Dorf nahe der Küstenstadt Skadovsk, je wiedersehen? Sie machen Kurzzeitpläne, mehr nicht.

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