Michael Brenner im Interview
„Die Welle der Solidarität mit Israel blieb aus“

Historiker Michael Brenner spricht über den Terror des 7. Oktober, Antisemitismus und historische Vergleiche

15.12.2023 | Stand 01.02.2024, 12:46 Uhr |

Professor Michael Brenner wurde als Sohn zweier Holocaust-Überlebender 1964 in Weiden in der Oberpfalz geboren, wo er aufwuchs. Mit seinem Buch „Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute“ legte der Historiker eine fundierte Einführung in die Geschichte Israels und des Zionismus vor. Foto: Stephan Rumpf

Seit 1997 lehrt Michael Brenner am neu eingerichteten Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2013 hat er zudem den Seymour and Lillian Abensohn Chair für Israel-Studien an der American University in Washington D.C. inne. Schon als Schüler interessierte sich Brenner, dessen Eltern sich als NS-Verfolgte nach dem Krieg in Weiden niederließen, für Geschichte: 1981 gewann er den 1. Preis beim Schülerwettbewerb des Bundespräsidenten mit einer Arbeit über die jüdische Gemeinde Weidens in der NS-Zeit und die Schicksale der nach 1945 dorthin gekommenen Juden. Die Stadt München hat kürzlich bekanntgegeben, Michael Brenner für sein bisheriges Schaffen mit dem Kulturellen Ehrenpreis 2023 auszuzeichnen. Er erhält den Preis für sein wissenschaftliches Gesamtwerk. Mit der Mittelbayerischen spricht er über den Terror des 7. Oktober, Antisemitismus und historische Vergleiche.

Herr Brenner, beginnen wir mit etwas Erfreulichem: Kürzlich hat die Stadt München verkündet, Sie mit dem Kulturellen Ehrenpreis auszuzeichnen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Michael Brenner: Ich war wirklich total überrascht. Das ist eine große Auszeichnung, über die ich mich sehr freue. München bedeutet mir sehr viel. Ich bin seit 1997 dort und ich habe das Gefühl, etwas Neues aufgebaut zu haben mit diesem Lehrstuhl, der vorher nicht bestand. Es ist auch die Auszeichnung für die Arbeit eines Teams, das wir dort aufgebaut haben.

In ihrer Arbeit widmen Sie sich vielfältigen Aspekten jüdischer Kultur und Geschichte – zum Beispiel dem jüdischen Humor. Gibt es ihn tatsächlich und was macht ihn aus?
Brenner: Ja, ich glaube schon, dass es ihn gibt – es hat viel damit zu tun, über sich selber lachen zu können. Wenn man vom typisch jüdischen Humor spricht, meint man meistens den osteuropäischen jüdischen Humor. Der kommt aus einer Zeit, in der es nicht so viel zu lachen gab. Was ihn ausmacht, ist, in Situationen, die ernst sind, lachen zu können. Der Humor ist eine Art Waffe gegenüber der Verfolgung.

Also eine Möglichkeit, die ständige Bedrohung erträglicher zu machen?
Brenner: Ja, genau. Mir fällt als Beispiel aus der Nazi-Zeit der jüdische Kulturbund ein: Jüdische Künstler konnten nur noch dort auftreten, nicht mehr auf allgemeinen Bühnen. Die Zuschauer wurden 1936/37 gefragt, was sie eigentlich sehen wollen. Eine der Antworten war: „Sie werden lachen – wir wollen lachen.“ Man möchte auch in Zeiten der Diktatur ein bisschen Normalität bewahrt wissen.

Kommen wir zur Gegenwart, die in Israel dramatisch ist: Der 7. Oktober ist ein Einschnitt, der historisch genannt werden kann. Wie haben Sie ihn persönlich erlebt?
Brenner: Ich habe den 7. Oktober hier in Washington erlebt. Beim Lesen der Meldungen im Internet weiß man recht schnell: Das ist ein Tag, der Israel verändern wird. Ich habe mich an den Terroranschlag vom 11. September 2001 erinnert gefühlt – einen Tag, den ich nie vergessen werde, ebensowenig wie den der Ermordung des Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin 1995 in Israel.

Als Historiker betrachten Sie Veränderungen über längere Zeiträume: Welche Entwicklungen in Israel haben zu dieser Eskalation des Hasses geführt?
Brenner: Man muss zurückgehen in die Zeit vor der Staatsgründung Israels. Ohne Zweifel war der Holocaust für diese ein entscheidendes Ereignis. Wie kein anderes hat es bewiesen, dass die Juden keine Heimat haben, in die sie flüchten können, wenn sie in Gefahr sind. Vielleicht hätten Millionen Menschen gerettet werden können, hätte es diesen Staat 1939 schon gegeben.

Dabei gab es unmittelbar nach der Staatsgründung Krieg gegen Israel.
Brenner: 1947 hat die UNO beschlossen, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Diese Entscheidung wurde von arabischer Seite abgelehnt, von jüdischer Seite angenommen. Der israelische Unabhängigkeitskrieg 1948 mit seinen Folgen wurde von der palästinensischen Seite als Nakbah, als Katastrophe gesehen. Die Narben dieser Zeit sind heute noch sichtbar. Nun kann man sagen, das wäre vielleicht alles anders gewesen, wenn die arabische Seite die Trennung angenommen hätte – klar. Es war aber so, dass die arabischen Staaten sagten: Warum sollen wir den Preis dafür zahlen, was die Europäer den Juden angetan haben? Es kam dann auch zur Vertreibung nicht nur von Palästinensern aus Palästina/Israel, sondern auch von Juden aus arabischen Staaten, aus dem Irak, Libyen, später auch Ägypten, Syrien. Man vergisst das heute, aber etwa die Hälfte der Bevölkerung Israels stammt von Juden aus muslimisch-arabischen Ländern ab.

1967 kam der Sechstagekrieg.
Brenner: In der Folge besetzte Israel Gebiete militärisch, in denen damals ausschließlich Palästinenser lebten, die Westbank und der Gazastreifen vor allem. Israel war damals und in den 70er Jahren dazu bereit, diese Gebiete zurückzugeben, wenn vonseiten der arabischen Staaten und von den Palästinensern die Bereitschaft da gewesen wäre, Israel anzuerkennen. Das war nicht der Fall.

Die Ermordung von Ministerpräsident Rabin 1995 galt vielen als das Ende der Hoffnung des Friedensprozesses.
Brenner: Der Friedensvertrag mit Ägypten Ende der 70er Jahre war eine Wende, die Hoffnung gemacht hat. Hoffnung, die in den 90er Jahren mit den Oslo-Verträgen mit der PLO gewachsen ist. Die Extremen auf beiden Seiten haben diese Hoffnung zerstört: Die palästinensischen Terrorangriffe auf israelische Busse, Restaurants oder Kinos und die Ermordung des wesentlich für diesen Friedensvertrag verantwortlichen Rabin durch einen israelischen Extremisten. Seit dieser Zeit, in der Israel den Status Quo bewahren wollte – das ist so die Politik von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – hat die Hamas im Gazastreifen all das vorbereitet, was wir am 7. Oktober gesehen haben.

Sie lehren in Deutschland und den USA. Sehen Sie Unterschiede in der Reaktion auf den 7. Oktober und den Krieg?
Brenner: Ich glaube, dass die beiden Regierungen in ihrer Unterstützung Israels nicht weit auseinander liegen. Allerdings hat sich Deutschland in der entscheidenden UN-Sicherheitsratssitzung der Stimme enthalten, während die USA mit Israel stimmten. Was die Bevölkerung betrifft, sieht man meist eine stärkere Unterstützung für Israel in den USA, aber innerhalb Europas die stärkste in Deutschland. Das hat mit der besonderen Verpflichtung Deutschlands wegen seiner Vergangenheit zu tun und auch mit Angela Merkels Erklärung, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist. In beiden Ländern erleben wir derzeit nicht nur antiisraelische Proteste, sondern auch antisemitische Ausschreitungen und Äußerungen. Hier in den USA sehe ich das meisten an den Universitäten.

Wie bewerten Sie das?
Brenner: Das Problem ist, alles auf schwarz-weiß zu reduzieren: Die einen sind die Unterdrücker, die anderen die Unterdrückten, die einen die Indigenen, die anderen die kolonialen Siedler. Die Rede ist von „white colonial settlers“. Dabei trifft das auf die USA oder Australien, in denen Einwanderer keinen historischen Zusammenhang mit diesem Land aufweisen können, viel mehr zu. Aber keiner will Manhattan seinen ursprünglichen Bewohnern zurückgeben.

Und in Israel?
Brenner: Da ist es komplizierter, weil Palästinenser und Juden beide für sich reklamieren können, indigene Bevölkerung zu sein und historische Bezüge zum Land zu haben. Auch das Argument gegen weiße Siedler trifft nicht zu: Die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels stammt aus arabischen Ländern. Gleichzeitig finde ich die Konzentration auf diesen einen Konflikt scheinheilig.

Inwiefern?
Brenner: Einen Monat vorher wurden 100000 Armenier aus Berg-Karabach vertrieben, doch niemand geht für sie auf die Straße, auch nicht für Tibeter und Kurden, die für ihr Heimatland kämpfen. Das ärgert zurecht viele Israelis, weil sie sagen: ,Wir werden immer als anders behandelt.‘ Man muss immer das Leid der anderen berücksichtigen. Das gilt im übrigen auch für Israelis, die sehen müssen, dass die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza leidet. Und wir in Deutschland müssen sehen, dass viele Leiden der Palästinenser in Gaza auf Kosten der Hamas gehen. Wer „Free Palestine“ ruft, muss bedenken, dass man die Palästinenser auch von dieser terroristischen Bewegung befreien sollte.

Angela Merkel sagte 2008, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson. Doch es ist unklar, ob die deutsche Solidarität an Voraussetzungen gebunden ist wie das Fortbestehen der israelischen Demokratie oder ob Israel im Gaza-Krieg das Völkerrecht verletzt. Ist das Konzept der Staatsräson heute noch zeitgemäß?
Brenner: Staatsräson ist eine Aussage, die einen gewissen moralischen Stellenwert hat, aber absolut keine politische oder juristische Bindung. Wenn jetzt der nächste Kanzler oder auch dieser – sagt, wir legen die Staatsräson ganz anders aus, dann ist das eben so. Das weiß Israel auch. Man hat auch gesehen, dass es auf die Entwicklung in Israel ankommt. Die Bundesregierung ist vor dem 7. Oktober auf Distanz zu einer rechtsgerichteten, aber doch demokratisch legitimierten Regierung gegangen. Nun war Israel einem schweren Terrorangriff ausgesetzt. Im Vergleich ist das so, als würden in Deutschland etwa 10000 Menschen an einem Tag getötet. Das war die größte Anzahl jüdischer Opfer seit dem Holocaust. Als Referenz ist immer wieder dieses Ereignis in den Raum gestellt und allein dadurch gibt es eine Verbindung zu Deutschland.

Netanjahu verglich das Hamas-Massaker mit dem Holocaust, Israels Botschafter heftete sich in der UN-Versammlung einen gelben Stern an. Was halten Sie von solchen Vergleichen?
Brenner: Ich finde sie nicht angebracht und auch gefährlich. Bei aller Tragik des 7. Oktober ist dieser nicht mit dem Holocaust vergleichbar, mit einem Massenmord von Millionen Menschen. Viele Holocaust-Überlebende in Israel haben sich selbst gegen solche Vergleiche gewehrt. Der bessere Vergleich ist der mit dem 11. September – nur von der Zahl der Getöteten her war der 7. Oktober noch gravierender, wenn man es auf die israelische Bevölkerung hochrechnet. Und die große Solidarisierungsbewegung, die es damals mit den Amerikanern gegeben hatte, blieb diesmal aus.

Auch in Deutschland beklagen jüdische Stimmen eine einseitige Solidarität mit den Palästinensern seit dem 7. Oktober.
Brenner: Für jüdische Israelis war der große Schock, wie ein Großteil der Welt das wahrgenommen hat – nur die israelischen Gegenangriffe zu verurteilen, ohne auf die unglaubliche Brutalität dieses Terrorangriffs einzugehen. Das hat die Nachricht gesendet, dass jüdische Opfer weniger wichtig sind und nichts gelten.

Aktuell tun sich Rechtspopulisten wie die AfD, Giorgia Meloni oder Marine Le Pen als Israel-Freunde hervor. Was steckt hinter diesen Bekundungen?
Brenner: Vor solchen falschen Freunden muss man sich hüten. Man kann nicht sagen, das sind unsere Partner, weil sie – ich sage das zugespitzt – die Muslime noch mehr hassen als die Juden, nach dem Motto „Der Feind unserer Feinde ist mein Freund“. Eine Partei, die nicht klar verurteilt, wenn in den eigenen Reihen der Holocaust verharmlost wird, wenn Ausländerhetze betrieben wird, kann nie Freund der jüdischen Gemeinschaft sein.

Gibt es etwas in Hinblick auf Israel, das Ihnen Hoffnung macht für die Zukunft?
Brenner: Der Geiselaustausch war ein Lichtblick. Ich bin im Moment nicht sehr optimistisch gestimmt, weil es für Israelis und Palästinenser keine schnelle zufriedenstellende Lösung gibt. Genauso wie die Juden ihren Staat brauchen, haben auch die Palästinenser Recht auf ihren Staat. Das wird nicht heute oder morgen aus diesem Konflikt hervorgehen, aber vielleicht gewinnt durch die Zuspitzung der Lage ein größerer Teil der Bevölkerung die Überzeugung, dass nur zwei Staaten eine langfristige Lösung sind.


Interview: Katharina Kellner

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