Nina (31) hat vier Kinder und vier Suizidversuche hinter sich. Concordia hilft ihr und ihren Kindern jetzt, sich ein neues Leben aufzubauen.
Zum 32. Mal leuchtet heuer „Ein Licht im Advent“, die Weihnachtsaktion der Passauer Neuen Presse. In diesem Jahr unterstützen Ihre Spenden die Arbeit der Hilfsorganisation Concordia in der Republik Moldau. Hier können Sie direkt online spenden. Alle weiteren Infos und Berichte zur Spendenaktion finden Sie hier auf unserer Sonderseite.
„Wenn ich groß bin, will ich Zauberin werden und zaubern, dass meine Mama nie älter wird und immer bei mir bleiben kann“, sagt Victoria* und kuschelt sich ganz fest an ihre Mutter. Die Siebenjährige weiß genau: „Wenn ich auch noch Mama verliere, habe ich niemanden mehr, der sich um mich kümmert.“ Weil ihr Vater trank und immer wieder sie, ihre drei Geschwister und ihre Mutter schlug, wächst Victoria ohne Papa auf. Lange war ihre Mutter so verzweifelt, dass sie nicht mehr leben wollte. Die Liebe ihrer Kinder und die Unterstützung von Concordia geben ihr jetzt die Kraft, für ihre Familie zu sorgen.
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„Wenn ich eine Zauberin bin, zaubere ich auch, dass Mama sich noch mal in einen lieben Mann verliebt und wir alle zusammen wohnen“, fährt Victoria fort. Ihre Mutter will ihrer Tochter die Illusionen nicht nehmen, aber sie glaubt nicht mehr daran, dass ein neuer Mann Victorias zerbrochene Familie wieder vollständig machen kann. „Nachdem, was mein Mann mir angetan hat, kann ich mir einfach nicht mehr vorstellen, dass ich mich noch mal verliebe“, sagt die 31-Jährige. Dabei hatte sie den Vater ihrer vier Kinder einst geliebt – doch das ist lange her.
Kinder haben grauenvolle Erinnerungen an den Vater
Als Nina vor elf Jahren nach der Geburt ihrer ältesten Tochter Diana aus dem Krankenhaus kam, schlug ihr Mann sie das erste Mal. Warum, das weiß Nina bis heute nicht, aber sie weiß noch genau, wie sehr sie sich seitdem vor ihm fürchtete. Trotzdem rief sie erst Monate später die Polizei. Die Beamten sprachen mit ihrem Mann, doch danach wurde alles nur noch schlimmer. Ihr Mann schlug noch häufiger und noch heftiger auf sie und seine Kinder ein. Am schlimmsten war es, wenn er getrunken hatte – und getrunken hatte er fast immer.
Das Geld, das Nina verdiente, indem sie die Gärten ihrer Nachbarn umgrub, versoff ihr Mann in schnellen, gierigen Schlucken. Dann schlug er zu. „Ich habe nie verstanden, warum er das getan hat, aber ich kann mich noch daran erinnern, dass wir weggerannt sind und uns versteckt haben oder in der Kälte warten mussten, während er betrunken im Haus geschlafen hat. Ich will nicht, dass er wiederkommt“, erinnert sich der heute neunjährige Alexei, der später einmal Polizist werden will, „um böse Väter ins Gefängnis zu stecken“.
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Sein Vater wurde für das, was er seiner Frau und seinen Kindern antat, nie zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen schimpften die Nachbarn und sogar Ninas eigene Mutter: „Warum hast Du die Polizei gerufen? Warum heulst Du so rum? Warum sprichst Du so schlecht über Deinen eigenen Mann? Reiß Dich gefälligst zusammen!“ Jahrelang taten Nina und ihre Kinder genau das. Weil ihr Mann alles versoff und sie ihren Kindern nichts wegessen wollte, aß Nina rohe Körner, wenn sie auf abgeernteten Maisfeldern einen Kolben fand. Nina und ihre Kinder versuchten, ihre blauen Flecken und Abschürfungen vor den Blicken der Kindergartenerzieherinnen, der Lehrerinnen und Lehrern und den Nachbarinnen und Nachbarn zu verbergen.
Als sie die körperlichen und seelischen Schmerzen nicht mehr aushielt, fing Nina irgendwann selbst an, zu trinken. Sie dachte sich: „Jeden Schluck, den ich im Haus finde und selbst trinke, kann mein Mann nicht mehr trinken.“ Der Alkohol konnte Ninas Verzweiflung immer nur kurz betäuben, doch ihre Verzweiflung wuchs, bis Nina nicht mehr leben wollte. Zwei Mal spülte sie mit Alkohol Tabletten runter, zwei Mal schnitt sie sich die Pulsschlagadern auf, das letzte Mal, als sie mit Lilia, ihrer jüngsten Tochter, schwanger war.
Nach viertem Versuch war ein Frauenhaus die Rettung
Heute, mehr als fünf Jahre später, weiß Nina nicht, ob sie damals wirklich sterben wollte, oder ob ihre Suizidversuche verzweifelte Hilfeschreie waren. Als sie sich von den geschluckten Schlafmitteln erbrechen musste und ihr das Blut pulsierend aus den Adern spritzte, wurde sie stets von ihren Nachbarn gefunden, vier Mal riefen sie den Notarzt, vier Mal retteten sie ihr so das Leben. Heute ist Nina ihren Nachbarn sehr dankbar. „Ich weiß nicht, wie ich das meinen Kindern antun konnte. Aber ich weiß, dass es mir nicht wieder passieren kann“, sagt Nina als sie an einem Novemberabend mit ihren Kindern in ihrem Häuschen in einem kleinen Dorf rund eine Stunde südlich der moldauischen Hauptstadt Chisinau sitzt.
Nach ihrem vierten Suizidversuch kam Nina mit ihren vier Kindern in ein Frauenhaus, blieb dort fast drei Jahre, bis die Psychologin meinte, dass Nina nach einer Psychotherapie wieder in der Lage sei, alleine für sich und ihre Kinder zu sorgen. Emotional war sie vielleicht ausreichend stabilisiert, doch während sie vor ihrem prügelnden und trinkenden Mann im Frauenhaus Schutz gesucht hatte, hatte er ihr Haus total verkommen lassen und schließlich aufgegeben. Als Nina mit ihren Kindern in das Häuschen mit dem Plumpsklo im Garten heimkehrte, regnete es durch das kaputte Dach, der Wind pfiff durch die kaputten Fenster, der Ofen blieb auch im Winter oft kalt, und die alleinerziehende Mutter und ihre Kinder mussten häufig hungrig ins Bett gehen.
Unterdessen hat Concordia für die zumindest notdürftige Reparatur des Hauses gesorgt und versorgt Nina und ihre Familie regelmäßig mit Lebensmittelhilfspaketen, Hygiene-Artikeln, Medikamenten, Schulmaterialien und Geld für Feuerholz für den langen und kalten Winter.
Kinder verstecken Brotrinden als Notration
„Eigentlich schäme ich mich, all das anzunehmen. Ich würde viel lieber mehr arbeiten, sodass ich selbst für meine vier Kinder und mich sorgen kann“, sagt Nina, die in der nahe gelegenen Kirche aushilft und Äcker für ihre Nachbarn umgräbt und dafür ein bisschen Geld oder Essen erhält. Doch vor allem im Winter, wenn die Böden hartgefroren sind, reicht es oft vorne und hinten nicht. Meist kocht sie ihren Kindern dann Suppe, weil sie so auch mit wenig Gemüse und viel Wasser einen großen Topf vollkriegt oder Haferschleim, weil der billig und sättigend ist. Fleisch gibt es in der Familie, die keinen Kühlschrank besitzt, nur selten.
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Manchmal findet Nina unter den Kopfkissen ihrer Kinder Brotkanten. Weil sie zu oft quälenden Hunger erlebt haben, haben Ninas drei Töchter und ihr Sohn sich angewöhnt, kleine Essensvorräte anzulegen. Oft schießen Nina die Tränen in die Augen, wenn sie in den zwei Betten, die sie sich mit ihren vier Kindern teilt, eine solche Notration findet.
„Unser Leben ist immer noch hart, aber zumindest ist es jetzt friedlich“, sagt die mittlerweile geschiedene Nina. Alexei, Ninas einziger Sohn, hat seiner Mutter genau zugehört. Eigentlich ist er wortkarg, doch weil er sieht, dass der Blick seiner Mutter wieder glasig geworden ist, sagt er doch fünf Worte, um sie zu trösten. „Wir schaffen das schon, Mama.“
* Die Namen der Kinder wurden aus Kinderschutzgründen von der Redaktion geändert.
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