Regensburg
Nigerianerin flieht nach Europa - hier ist der Horror nicht vorbei

02.01.2020 | Stand 20.09.2023, 0:34 Uhr

Der Moment der Rettung: Angehörige der libyschen Küstenwache zerren die Flüchtlingsfrau Rosemary kurz vor dem Ertrinken an Bord. Die Szene wird mit einem Handy festgehalten. −Fotos: Rast (2)/privat

Vor vier Jahren flieht Rosemary vor Zwangsehe und Beschneidung aus Nigeria nach Europa. In Libyen wird sie gefoltert und bei einer Vergewaltigung mit HIV infiziert. Erst beim vierten Versuch gelingt es ihr, das Mittelmeer zu überqueren. Doch Deutschland will die schwer traumatisierte Frau nach Italien abschieben, wo ihr die Zwangsprostitution droht.

Rosemarys Odyssee von Nigeria nach Bayern beginnt, als sie Nein sagt. Die attraktive 24-Jährige stemmt sich gegen die Entscheidung ihrer Familie, einen elf Jahre älteren Mann zu heiraten: "Ich mochte ihn nicht." Sie liebt einen anderen Mann. Doch im Kulturkreis der Igbo haben junge Frauen keine Wahl. Sie müssen sich dem Beschluss der Familie unterwerfen. Außerdem weiß Rosemary, dass sie sich im Falle einer Schwangerschaft beschneiden lassen muss. "Man darf nicht Nein sagen." So schreibt es die Tradition der Igbo vor, obwohl die meisten Angehörigen dieser Volksgruppe wie Rosemary Christen sind. Aber sie will sich nicht verstümmeln lassen. So bleibt ihr nur die Flucht.

Zur gleichen Zeit lernt sie eine Frau kennen, die sie Madam nennt. Sie ist etwa 45 Jahre alt, wohlhabend, und bietet Rosemary ein Geschäft an: Organisation der Flucht nach Italien. Die Kosten von umgerechnet 5000 Euro werden vorgestreckt und müssen in einem Supermarkt oder Afrika-Laden abgearbeitet werden. Rosemary willigt ein. Sie will fliehen vor der Zwangsehe und dem Messer der Beschneiderin. Was sie nicht weiß: Madam ist die Chefin eines Menschenhändler- und Prostitutionsrings, dessen Macht von Nigeria bis Italien reicht.

Flucht startet im Dezember 2015 in Abuja

Die Flucht startet im Dezember 2015 in Abuja. Zu der Gruppe gehören noch zwei Mädchen. Mit dem Bus geht es in Richtung nördliches Nachbarland Niger. Auf Motorrädern werden die Frauen nachts über die Grenze gebracht. Auf den offenen Ladepritschen von Pick-up Trucks werden etwa 30 Menschen zusammengepfercht. "Wir sind Tag und Nacht durch die Wüste gefahren. Alles war gut organisiert", erinnert sich Rosemary.

In Libyen soll ein Taxi die drei Frauen an die Küste bringen. Doch zwischen Sabha und Tripolis hält eine Gruppe schwer bewaffneter junger Männer den Wagen an. "Wir drei Frauen wurden aus dem Auto gezerrt. Uns wurden die Augen verbunden." Der Taxifahrer wird weitergeschickt, die Frauen mit einem Fahrzeug zu einem Haus gebracht. "Es hatte mehrere Zimmer, auf die wir Frauen verteilt wurden." Mehrere Männer wollen Rosemary vergewaltigen. Sie bettelt und fleht, wehrt sich, schreit: "Nein! Nein! Nein!" Um ihren Willen zu brechen, schneidet ihr einer der Männer mehrfach tief mit einem Messer in den Arm. Schwer verletzt wird sie über Tage sexuell missbraucht. Am Ende werfen die Kidnapper Rosemary und ihre beiden Leidensgenossinnen im Nirgendwo auf eine Straße. Ein Autofahrer hat Mitleid mit der Geschundenen und bringt sie nach Tripolis, die beiden Gefährtinnen bleiben zurück.

Dort wendet sich Rosemary an einen Kontaktmann der Menschenhändler. Er vermittelt sie an einen Arzt, der die Wunden näht. Sie hat drei Monate Zeit, um sich zu erholen.

"Der Bootsführer kannte den Weg nicht"

Im Sommer 2016 sitzt sie mit 120 weiteren Flüchtlingen eng an eng auf einem Schlauchboot. Es legt um 23 Uhr ab. "Der Bootsführer kannte den Weg nicht, er fragte die Besatzung eines Fischerboots nach dem Kurs." Am Ende landen alle wieder an der libyschen Küste.

Drei Wochen später startet der nächste Versuch, der gleiche Bootstyp, die gleiche Zahl an Menschen. Doch das Schlauchboot verliert rasch an Luft: "Ich dachte, wir sterben alle." Niemand an Bord trägt eine Rettungsweste, kaum jemand kann schwimmen. Im Boot entsteht Panik. Acht Menschen, die außen sitzen, werden ins Wasser geschubst und ertrinkend zurückgelassen. Ein Schiff der libyschen Küstenwache rettet die Überlebenden und bringt sie zurück.

Alle Flüchtlinge kommen in ein libysches Gefängnis. Auf die Frage nach den dort herrschenden Verhältnissen starrt Rosemary lange an die Wand gegenüber. Schließlich flüstert sie: "Das kann man nicht beschreiben." Aber einige Sekunden später bricht es laut aus ihr heraus: "Sie haben uns grundlos geschlagen, geschlagen, geschlagen, jeden Tag geschlagen, immer wieder geschlagen. Ich lag am Boden und sie schlugen immer wieder auf mich ein, sie schlugen sogar Schwangere." Es gibt im Gefängnis kaum Nahrungsmittel und Meerwasser zu trinken. In dem überfüllten Gebäude werden Flüchtlinge aus ganz Afrika wie Vieh gehalten. Die Folter der Wärter verfolgt ein Ziel: So wird Druck auf die Schlepperbanden ausgeübt, die Gefangenen freizukaufen. Als Rosemarys Kontaktmann nach drei Wochen etwa 1000 Euro bezahlt, kommt sie frei.

"Beim dritten Mal war es am schlimmsten"

Im Winter ist die Fahrt über das Mittelmeer zu gefährlich, aber im Frühjahr 2017 startet der nächste Versuch. "Beim dritten Mal war es am schlimmsten. Auf halbem Weg fiel der Motor aus und die Luft entwich." Die Männer an Bord kämpfen, sie versuchen in Todesangst, sich gegenseitig ins Wasser zu werfen. Ein nahes Fischerboot alarmiert die libysche Küstenwache. Am Ende ertrinken etwa 80 Menschen, nur 41 Personen werden gerettet. Eine von ihnen ist Rosemary. Als sie in letzter Minute an Bord gezogen wird, hält ein libyscher Offizier den Moment mit seinem Handy fest. Später sendet er ihr dieses Foto über ein soziales Netzwerk. Im Gefängnis erleidet Rosemary wieder Torturen. Sie begegnet zufällig den beiden Frauen wieder, die mit ihr in Abuja aufgebrochen sind. Sie wird schwer krank. Doch der Schlepper bezahlt erneut für ihre Freilassung.

Erst der vierte Anlauf, das Mittelmeer zu überqueren, ist im Juli 2017 erfolgreich. Plötzlich kreist ein Helikopter über dem Schlauchboot. Der Pilot gibt dessen Position durch und bald nähert sich ein deutsches Rettungsschiff. Doch die Flüchtlinge befürchten zuerst, wieder in libysche Gefängnisse gesteckt zu werden. Als sie hören, dass sie in internationalen Gewässern sind und nach Europa gebracht werden, können sie es kaum glauben. "Sie gaben uns Wasser, Kleidung und Betten. Ich weiß nicht, warum Gott ausgerechnet mir geholfen hat." Rosemary wird in einer Flüchtlingsunterkunft in Sizilien einquartiert. Sie ist sehr schwach, erhält Infusionen in einem Krankenhaus. Um festzustellen, an welchen Krankheiten sie leidet, wird auch ein HIV-Test gemacht. Er fällt positiv aus. "Nach all dem Schmerz und Leiden wollte ich mein Leben beenden. Ich habe nicht mehr an eine Zukunft geglaubt." Doch die italienischen Ärzte vermitteln ihr Hoffnung, sie erhält eine Therapie. Rosemary ist sicher, dass sie bei der Vergewaltigung in der libyschen Wüste infiziert wurde. Denn kurz vor ihrer Flucht aus Nigeria hatte sie sich routinemäßig einem HIV-Test unterzogen, der negativ ausgefallen war: "Die HIV-Tests dort sind kostenlos."

Sie will nicht als HIV-positiv stigmatisiert werden

In der Unterkunft lernt sie Italienisch. Ihre täglich 14 Pillen schluckt sie heimlich auf der Toilette. Sie will nicht als HIV-positiv stigmatisiert werden. Über Facebook nimmt sie Kontakt zu den beiden Mitflüchtlingen auf. Sie haben es inzwischen ebenfalls nach Italien geschafft und arbeiten als Straßenprostituierte. Sie geben Rosemarys Handynummer an Madam weiter. Am Telefon erklärt die Dame Rosemary, dass ihre Schulden nun nicht mehr 5000, sondern 25000 Euro betragen. Von einem normalen Job ist keine Rede mehr. Rosemary soll ebenfalls auf dem Straßenstrich anschaffen. Sie sagt Nein. Sie sagt, dass sie HIV-positiv ist. Doch Madam kennt kein Erbarmen.

Wieder bleibt Rosemary nach über einem Jahr in Italien nur die Flucht. Um ihre Spuren zu verwischen, zerstört sie die SIM-Karte ihres Handys. Sie setzt sich in einen Zug und fährt über die Schweiz nach Freiburg. Obwohl sie keinen Ausweis hat, lässt sie ein mitleidiger Schweizer Grenzbeamter passieren.

Psychologe ist sich sicher: Geschichte der Frau stimmt

Seit dem 2. Mai lebt sie im Ankerzentrum in Regensburg. Da sie HIV-positiv ist, betreut die Psychosoziale Aids-Beratungsstelle Oberpfalz des Roten Kreuzes die schwer traumatisierte Nigerianerin. Psychologe Hans-Peter Dorsch, der Leiter der Einrichtung, hat inzwischen rund 25 Gespräche mit ihr geführt. Er ist sicher, dass die Geschichte der sympathischen und intelligenten Frau stimmt. Da sich die in Italien begonnene antiretrovirale Therapie als zu wenig wirksam erwiesen hat, wird sie in Regensburg erfolgreich optimiert. So bleibt die Patientin gesund und kann niemanden anstecken. Doch die 28-Jährige bedarf regelmäßiger medizinischer Betreuung. Sie lernt Deutsch und will hier - wie früher daheim - als Köchin arbeiten.

Aber das Bundesamt für Migration hat Rosemarys Asylantrag abgelehnt. Zuständig für sie ist laut Dublin-Vertrag Italien, weil sie dort an Land gegangen ist. In einem Schreiben der an der Regierung der Oberpfalz angesiedelten Zentralen Ausländerbehörde, das unserer Zeitung vorliegt, heißt es mit Datum vom 20. November: "Sie werden am 20.01.2020 nach Italien überstellt. Halten Sie sich an diesem Tag ab 6 Uhr bis zur Abholung durch die Polizei in dem Ihnen zugewiesenen Zimmer in der Ihnen zugewiesenen Unterkunft mit Ihrem Gepäck zur Abholung bereit."

Rosemary ist verzweifelt. Sie hat Angst, in Italien wieder in die Fänge von Madam und ihrer Zuhälterorganisation zu geraten, also in der Straßenprostitution zu enden. Dorsch befürchtet zudem, dass die erfolgreiche HIV-Therapie in Italien nicht fortgesetzt wird. Außerdem droht Rosemary die Abschiebung in ihr Heimatland. "Dort wäre ich Madam ausgeliefert", glaubt sie und sagt wieder Nein: "Ich werde mich eher umbringen, als nach Nigeria zurückgehen."

Brief an Bundesinnenminister Horst SeehoferUm die aus Nigeria stammende Flüchtlingsfrau Rosemary vor der Überstellung nach Italien und der drohenden Abschiebung in ihr Heimatland zu retten, hat der Psychologe Hans-Peter Dorsch einen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer geschrieben. Das Schreiben des Leiters der Psychosozialen Aidsberatungsstelle in Regensburg liegt unserer Zeitung vor. Durch eine Entscheidung des CSU-Politikers könnte verhindert werden, dass Rosemary am 20. Januar den italienischen Behörden übergeben wird. Wie Dorsch an Seehofer schreibt, benötigt die 28-Jährige dringend medizinische Versorgung und lebensnotwenige HIV-Medikamente. Da Italien vom Ausmaß der Fluchtbewegung überfordert sei, hält Dorsch es für ausgeschlossen, dass die Frau dort die nötige medizinische Versorgung bekommt. "Ich sehe zu große Risiken, dass sie nach der Überstellung an Italien schwere, vielleicht irreparable Schäden an Leib und Seele zu erwarten hat", heißt es in dem Brief.

Dorsch schlägt Minister Seehofer vor, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) anzuweisen, den Fall Rosemary erneut zu prüfen und auf die Überstellung nach Italien zu verzichten: "Deutschland könnte sich für dieses Asylverfahren zuständig erklären." Ein Anwalt hat vor dem VG Regensburg gegen die Bamf-Anordnung Klage eingereicht. Dorsch hofft, dass sie die Entscheidung in Deutschland abwarten kann.

Rosemary ist ein Pseudonym, das die Flüchtlingsfrau aus Nigeria selbst gewählt hat, um ihre Anonymität zu wahren. Ihr richtiger Name ist dem DONAUKURIER bekannt. Außerdem liegen unserer Zeitung mehr als 60 Seiten an Dokumenten deutscher Gerichte, Behörden, Anwälte, Ärzte und Hilfsorganisationen vor, die ihr Leben beschreiben. Wer Rosemary bei den Anwaltskosten unterstützen möchte, kann das mit einer Spende an die Aids-Beratungsstelle Regensburg, Bankverbindung Sparkasse Regensburg, IBAN: DE 09 7505 0000 0000 1200 22, Stichwort "Rosemary".

− dk