Passau
Gibt es unübersetzbare Bücher?

Der Harari-Übersetzer Dr. Andreas Wirthensohn im Interview

26.02.2023 | Stand 17.09.2023, 2:05 Uhr

Sachbücher sind das Metier des Übersetzers Dr. Andreas Wirthensohn. Er hat u.a. die Werke des berühmten israelischen Historikers Yuval Noah Harari aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. −Foto: privat

Das erste Mal ist etwas ganz Besonderes. Der erste Auftritt eines Musikers, das erste Tor einer Fußballerin, der erste Fall eines Juristen. Solche Momente bleiben in Erinnerung und können Menschen ihr Leben lang prägen. Um solche Erfahrungen geht es im PNP-Interview „Mein erstes Mal“. Heute: der Übersetzer Dr. Andreas Wirthensohn (55).

Was sind Ihre ersten Erinnerungen an Bücher und ans Lesen?
Da gibt es bei mir drei Erinnerungen. Die erste ist das sehr opulent bestückte Bücherregal im elterlichen Wohnzimmer. Da standen Bücher von Goethe über Thomas Mann, Peter Handke bis Thomas Bernhard – die Klassiker eben, mein Vater war Deutschlehrer. Diese Bücher habe ich damals nicht alle gelesen, aber sie haben offenbar allein durch ihre Anwesenheit und mein Betrachten sozusagen eine Art Leseneigung in frühen Jahr in mir verankert. Die zweite Erinnerung sind schier endlose Lesenachmittage zuhause auf dem Balkon oder im Winter auf der Fensterbank, in denen ich förmlich versunken bin in Karl-May-Bücher. Das waren meine ersten intensiven Leseerfahrungen. Die dritte sind die häufigen und ausgedehnten Besuche in der Europabücherei, die damals noch in der Redoute war. Dort streifte ich durch die Regale und lieh mir alles Mögliche aus. Gerade im Jugendbuchbereich habe ich dort viele Welten für mich entdeckt.

Wann wurden Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass es so etwas wie professionell Übersetzer gibt?
Das war, als ich die Asterix-Hefte gelesen habe, die von Gudrun Penndorf auf unglaublich gute Art übersetzt wurden. Das war der einzige Comic, den mein Vater mir erlaubt hat, quasi die bildlungsbürgerliche Variante des Comics (lacht). Da bin ich zum ersten Mal draufgekommen, dass es eine unglaublich interessante und offenbar auch amüsante Arbeit sein kann, so etwas zu übersetzen.

Sie übersetzen aus dem Englischen. Was war das erste Buch, dass Sie von vorne bis hinten auf Englisch gelesen haben?
Gute Frage, daran kann ich mich gar nicht so deutlich erinnern (lacht). Ich glaube aber, dass es in der Schule „The Old Man and the Sea“ von Ernest Hemingway war.

Dann sind Sie ja gleich in hohe Literatur eingestiegen.
Es ging eigentlich, das ist vom Englischen her gar nicht so schwierig. Vor allem ist das Buch nicht besonders umfangreich.

Wann kam Ihnen erstmals der Gedanke, dass Sie den Beruf des Übersetzers ergreifen wollen?
Ehrlich gesagt: Der Gedanke kam mir überhaupt nie. Erstens ist das Übersetzen zwar meine Haupttätigkeit, aber nur eine von mehreren. Ich bin auch als Lektor tätig, ich arbeite auch journalistisch, ich habe überdies einige Gedichtanthologien veröffentlicht. Ins Übersetzen bin ich im Laufe der Jahre eher hineingerutscht. Am Anfang war es ein nicht besonders stark belastetes Standbein meiner Tätigkeit, aber im Laufe der Jahre stand ich immer fester darauf. Auch, weil ich immer öfter einfach gefragt wurde, ob ich nicht dieses oder jenes Buch übersetzen möchte. Das war also weniger eine Berufsentscheidung als eine Berufsentwicklung.

Was braucht man, um Übersetzer zu werden? Reicht es, Anglistik studiert zu haben und ein Gefühl für Sprache zu haben?
Sie werden lachen, aber ich habe nicht einmal Anglistik studiert, sondern Germanistik und Politikwissenschaft. Ich hatte aber Leistungskurs Englisch in der Schule. Für bestimmte Übersetzertätigkeiten, z.B. das Übersetzen amtlicher Dokumente oder das Dolmetschen im Europaparlament, gibt es feste Ausbildungen. Ich bin aber dazu gekommen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde, indem ich im Zuge meiner Tätigkeit für Verlage einfach mal von einem Lektor gefragt wurde, ob ich nicht Lust hätte, etwas zu übersetzen. Da ich auf neue Tätigkeiten immer neugierig bin, dachte ich mir: Ich probier’s einfach mal aus. Das dauerte bei den ersten Büchern relativ lange und ging nicht so rund und flüssig von der Hand, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Den Grundstein für meine Vorliebe zum Übersetzen hat bei mir im Übrigen nicht das Englische gelegt, sondern der Lateinunterricht am Leopoldinum. Ich habe damals schon wahnsinnig gerne Texte aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, ich hatte große Freude daran, mich in Satzkonstruktionen zu verlieren und sie aufzudröseln. In dem Sinne habe ich also keine Ausbildung als Übersetzer. Die zentralen Fähigkeiten eines Übersetzers, gerade im Sachbuchbereich, sind eine wissenschaftliche Arbeitsweise und eine große Kompetenz in der Sprache, in die man übersetzt. Ich würde es mir nie zutrauen, einen Text auf Muttersprachenniveau ins Englische zu übersetzen. Die Kernkompetenz ist also im Grunde immer die Zielsprache.

„Die Frage ist, was man unter ,Übersetzen‘ versteht“

Was war das erste Werk, dass Sie gegen Bezahlung übersetzt haben?
Das waren komischerweise zwei literarische Texte, die 1999 in einer kleinen Anthologie namens „Das kleine Buch vom Weltuntergang“ erschienen sind. Einen dieser Texte habe ich sogar aus dem Französischen übersetzt. Beide waren wirklich schwierig. Da wurde mir klar, dass die Literaturübersetzung nicht das ist, was ich machen möchte. Ein Jahr später hat mich ein Lektor des Campus-Verlags in Frankfurt, bei dem ich ein dreimonatiges Praktikum gemacht habe, gefragt, ob ich ein sehr theoretisches Werk über die europäischen Gesellschaften im Vergleich übersetzen möchte. „Klar, mach ich gerne“, habe ich gesagt. Das Buch war ziemlich wissenschaftlich, fast 450 Seiten stark, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Ab da wusste ich: Wenn ich etwas übersetzen will, dann Werke aus dem Sachbuchbereich.

Sind Sie schon auf Ausdrücke und Redewendungen gestoßen, die Sie einfach nicht übersetzen konnten?
Die Frage ist immer, was man unter „Übersetzung“ versteht. Wenn man darunter versteht, dass man relativ inhaltsnah von einer Sprache in die andere übersetzt, dann kriegt man sehr schnell große Schwierigkeiten, vor allem im Literaturbereich, gerade in der Lyrik. Das ist auch immer davon abhängig, aus welcher Sprache man übersetzt. Das Englische ist eine sehr knappe, prägnante Sprache mit einem enormen Wortschatz, man hat also mitunter wirklich große Schwierigkeiten. Wenn man aber sagt, dass auch eine Art „Nachdichtung“ oder ein „Nachmachen“ im Deutschen als Übersetzung gilt, dann gibt es wenig Unübersetzbares.

Wie übt man sich darin, immer die richtige Entsprechung, Stimmung und Atmosphäre in der Übersetzung zu finden?
Gute Frage. Es ist eine der Hauptkompetenzen eines Übersetzers, aber auch eine der Hauptschwierigkeiten, ein Buch nicht nur sachlich richtig ins Deutsche zu bringen, sondern auch einen gewissen „Sound“ zu finden. Wie soll das Buch beim Lesen im Deutschen klingen? Das hängt stark vom Original ab. Nach vielen Jahren lernt man, dass selbst große Koryphäen aus Harvard und Oxford auch nur mit Wasser kochen und nicht alle große Stilisten sind. Es gibt sogar Fälle, in denen man ein Buch sprachlich eine Stufe nach oben rücken muss im Deutschen, damit es nicht so langweilig und hölzern wie im Original klingt. Das Gespür dafür zu entwickeln ist aber in der Tat eine der größten Schwierigkeiten.

Kann eine schlechte Übersetzung ein Buch, das mehr verdient hätte, in einem Land oder Sprachraum kommerziell abstürzen lassen?
Das kann schon passieren, wobei es dann schon ein gewaltiger Ausreißer nach unten sein müsste, der einen völlig anderen Ton als das Original hat. Im Sachbuchbereich ist es eher so, dass Bücher primär aufgrund des Inhalts, des Themas gekauft werden und die Sprache nicht das wichtigste Kaufkriterium ist. Man kauft ein Sachbuch eher selten, weil man sagt: „Oh, das liest sich so schön.“ Wenn es schlecht übersetzt ist, besteht natürlich die Gefahr, dass man das Buch schnell wieder aus der Hand legt.

Gibt es Bücher, die sie für unübersetzbar halten?
Es gibt Bücher wie z.B. „Finnegans Wake“ von James Joyce, die man tatsächlich nicht im klassischen Sinne übersetzen kann. Da muss man eine Art deutsche Nachdichtung erstellen. Das sind dann großartige, unglaubliche kreative Leistungen der Übersetzer. Ähnlich ist es im Lyrikbereich, wo man sich auch immer entscheiden muss, ob man eher den Inhalt oder die Sprachspiele und den Rhythmus der Verse transportieren will. Beides kriegt man eigentlich nie unter einen Hut.

Haben Sie ein Übersetzer-Idol?
Ein Idol in dem Sinne habe ich eigentlich nicht. Ich achte, seit ich selber übersetze, sehr häufig darauf, wie eine Übersetzung klingt und finde dann immer wieder ganz tolle Übersetzer. Eine, die ich im literarischen Bereich wahnsinnig schätze, sowohl als Schriftstellerin als auch Übersetzerin, weil sie über ein gewaltiges Sprachrepertoire verfügt, ist Esther Kinsky. Sie übersetzt u.a. aus dem Englischen und Polnischen. Ich finde ihre literarischen Werke und ihre Übersetzungen großartig. Von ihr gibt es ein schönes Buch mit theoretischen Texten mit dem Titel „Fremdsprechen – Gedanken zum Übersetzen“. Das ist eines der Bücher, die ich mit großer Intensität immer wieder lese.

Was ist Ihr erster Arbeitsschritt, wenn Sie einen neuen Auftrag bekommen?
Das erste, was ich mache, ist das Wichtigste: Ich rechne ungefähr aus, wie umfangreich das Ding wird. Ich muss schließlich wissen, wie lange ich ungefähr brauche und wie groß der Zeitaufwand in etwa wird. Man rechnet eigentlich immer: Englischer Text plus 25 Prozent ergibt den deutschen Text. Dann schaue ich, welche grundlegenden Bücher und Nachschlagewerke es zu dem Thema schon gibt. Ich kann dann natürlich nicht alle Bücher von vorne bis hinten lesen, aber ich ziehe sie bei einzelnen Kapiteln oder Sachverhalten zurate. Der zweite Schritt ist also, dass ich mir eine kleine Handbibliothek besorge. Drittens nehme ich Kontakt zum Autor oder zur Autorin auf, obwohl das nicht immer nötig ist. Den meisten ist es relativ wurscht, ob ihr Buch ins Deutsche übersetzt wird (lacht). Andere, die vielleicht selber gut Deutsch können, wollen die Übersetzung noch einmal lesen, mit denen trete ich dann in einen Austausch über bestimmte Begrifflichkeiten und wissenschaftliche Details. Das hängt sehr stark vom einzelnen Buch ab. In der Regel habe ich mit dem Autor während der Arbeit gar nichts zu tun. Der Harari z.B. wird in zig Sprachen übersetzt, der kümmert sich nicht um meine Übersetzung.

Oft erscheinen die verschiedenen Fassungen zeitgleich. Wie läuft die Übersetzungsarbeit in solchen Fällen ab?
Es hat sehr zugenommen, dass man keine fertigen Bücher mehr übersetzt, sondern das Original im Manuskriptzustand bekommt. Das Ziel ist es, dass die deutsche Ausgabe möglichst zeitgleich erscheint, sonst lesen viele das englische Original und kaufen die deutsche Version nicht. Das betrifft vor allem Bücher über aktuelle Themen. Es passiert aber oft, dass sich das Manuskript noch verändert. Dann muss man in engem Austausch mit dem Originalverlag stehen, um alle Ergänzungen und Streichungen nachvollziehen zu können, sonst kommen am Ende zwei verschiedene Werke heraus.

Das Übersetzerhirn lässt sich nicht ausschalten

Können Sie ein englisches Buch einfach zum Vergnügen lesen oder schaltet sich ihr innerer Übersetzer ständig ungefragt ein?
Es ist leider in der Tat so, dass sich mein Übersetzerhirn einschaltet und ich still vor mich hin übersetze, vor allem bei Sachbüchern. Das ist aber nicht die produktivste Art der Lektüre.

Künstliche Intelligenz kann immer mehr. Könnte KI Ihren ganzen Berufszweig obsolet machen?
Es gibt bestimmte Bereiche, in denen man Menschen künftig wohl nur noch braucht, damit sie kurz drüberschauen, etwa bei Gebrauchsanweisungen oder sehr förmlichen Texten ohne individuelle Note. In diesen Bereichen hat der Mensch keine Chance gegen eine Maschine, die so etwas in einem Bruchteil der Zeit übersetzen kann. Aber sobald es komplexer wird und das Werk einen individuellen Stil hat, dann kann KI die Arbeit vielleicht sogar erleichtern. Ich denke aber, dass die Maschine den Menschen nicht ersetzen kann. Englische Wörter können im Deutschen wahnsinnig viele Bedeutungen haben, und eine Maschine kennt den Kontext eines Satzes oder einer Passage nicht, sondern übersetzt irgendetwas, was der Algorithmus ihr vorgibt. Dann stehen zum Teil völlig falsche Sachen drin.

Wenn Sie in Ihrem Leben nur noch ein Werk übersetzen dürften: Welches würden Sie sich aussuchen?
Ich würde mich mit Gedichten begnügen, und zwar am liebsten denen von T.S. Eliot.

Gewieft, wahrscheinlich würden Sie alleine für „The Waste Land“ Jahre brauchen.
(lacht) Genau! Dafür würde ich mir dann wahnsinnig viel zeit nehmen.


Der israelische Historiker Yuval Noah Harari ist eine der populärsten Stimmen der Gegenwart, seine Werke ( „Homo Deus" „Fürsten im Fadenkreuz" und „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“) sind weltberühmt. Ins Deutsche übersetzt hat ihn der gebürtige Passauer Dr. Andreas Wirthensohn, der am 1. März, 19 Uhr, im Passauer Café Divan über seine Arbeit und das Werk Hararis spricht. Wirthensohn arbeitet auch als Lektor, Literaturkritiker und Hörfunkautor. Auch in diese Bereiche wird er vertiefte Einblicke geben. Musikalisch begleiten den Abend Walter Schwetz und Jan Korinek, Veranstalter ist „Impulse für Passau e.V.“