Experte im Interview
„Generation Beziehungsunfähig“ - Warum das nicht stimmt, erklärt ein Passauer Therapeut

14.05.2023 | Stand 16.09.2023, 22:13 Uhr

−Foto: Getty Images

Wer kennt sich da noch aus: Polyamorie, Ghosting, Breadcrumbing, Pansexualität ... Viele Menschen der älteren Generationen haben keinen Überblick mehr über das, was die Jugendlichen heutzutage beschäftigt. Oft fällt dann der Begriff „Generation beziehungsunfähig“ – durchaus aber auch von den Jugendlichen selbst.



Doch was steckt hinter dem Begriff und sind die Jugendlichen heute tatsächlich beziehungsunfähig? „Auch, wenn man manchmal dazu neigt, dies so zu sehen, denke ich nicht, dass das wirklich so ist“, sagt der Passauer Heilpraktiker für Psychotherapie Rudolf Fesl. Er erkennt bei der Generation Z, also all diejenigen Jugendlichen, die zwischen den Jahren 1995 und 2010 geboren wurden, eine große Sehnsucht nach der „klassischen, stabilen, tragfähigen Partnerschaft“. Jedoch stellt er fest, dass die Ansprüche an eine Beziehung, sowohl an das, was sie leisten soll, als auch die Art, sie zu führen, sich „deutlich verändert“ haben.

Funktion einer Beziehung hat sich verändert



„Ihre Funktion im Leben ist eine andere geworden“, resümiert er. Eine Beziehung muss ihm zufolge mehr bieten als nur Sicherheit. „Man führt sie, weil sie einem nützt“, sagt Fesl. Das kann auch die 25-jährige Laura E., die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, bestätigen. Die Studentin aus dem Passauer Raum findet die Bezeichnung „Generation beziehungsunfähig“ zu pauschalisierend und auch unzutreffend, weil es genügend Pärchen in ihrem Umfeld gibt, die eine zufriedenstellende Beziehung führen. „Heute ist eine Beziehung einfach nicht mehr an erster Stelle. Man geht vielleicht studieren, muss umziehen und es gibt andere Dinge, die eine höhere Priorität haben.“

Laura wünscht sich das Gefühl, dass die Person eine „Bereicherung fürs Leben“ ist und „ein Zusatz zu dem, was ich eh schon habe, aber nichts, was ich brauche, damit mein Leben Sinn macht.“ Rudolf Fesl sieht in dieser Entwicklung, dass der Optimierungswahn auch in Partnerschaften angekommen ist.

„Projekt Ich“ steht an erster Stelle



Gesucht wird, wie der Psychotherapeut feststellt, der „perfekte Partner“ – die Auswahl sei dank des Internets riesig. Angesichts dessen stellt er die Frage in den Raum: „Wenn der Wunsch nach einer Partnerschaft ungebrochen ist, ist ‘Beziehungsunfähigkeit‘ dann der richtige Ausdruck für das Phänomen?“

Vielmehr stehe das „Projekt Ich“ an oberster Stelle: „Aufopferung und Hingabe ist out, Selbstverwirklichung in“, resümiert Rudolf Fesl. Und auch Laura findet: „Ich kann auch später noch eine Beziehung haben, ich bin deshalb nicht unfähig, sondern es ist eine bewusste Entscheidung.“

Psychotherapeut Rudolf Fesl übt jedoch in diesem Zusammenhang Kritik an der virtuellen Welt: Je mehr Zeit die Menschen dort verbringen, desto größer wird das Problem, sich in der realen Welt zurechtzufinden. „Die kommunikativen Fähigkeiten leiden und Sozialkompetenz wird nicht gefördert, oder geht verloren.“ Das könne im Bezug auf das Führen einer Partnerschaft von Nachteil sein.

Muss sich die Monogamie verabschieden?



Doch wohlmöglich ist es das Konzept von Partnerschaft an sich, das die jungen Generationen derzeit revolutionieren, mutmaßt Fesl: „Vielleicht ist es ja die Monogamie, die sich verabschieden und einem Beziehungsmodell mit mehren Geschlechtspartnern weichen muss.“ Im Gegensatz dazu stehen laut Fesl jedoch einige Untersuchungen, die zeigen, dass das Wertesystem der Jugendlichen „fast schon spießig“ ist.

„Ehrliche Freundschaft, der hohe familiäre Verbund und ein fester Partner, dem man sich anvertrauen kann – das sind die Werte der Erwachsenen von morgen“, betont er. Laura E. erkennt sich darin wieder: „Ich habe nie eine Beziehung geführt, ohne mir mit demjenigen später ‘mal Kinder und eine Zukunft vorstellen zu können.“

Das Bedürfnis nach einem familiären Zusammenhalt ist, wie Psychotherapeut Fesl ausführt, bei manchen Jugendlichen stärker präsent als bei anderen. Dennoch glaubt er, dass schon alleine die Beziehung der Kinder dieser Generation zu ihren Eltern sich im Vergleich zu den Generationen davor verändert hat. „Viele bleiben in der Nähe der Eltern wohnen, kommen sie regelmäßig besuchen“, weiß er. Bei Rat seien auch häufig die Eltern die erste Anlaufstelle. Deshalb wagt Rudolf Fesl an der „Beziehungsunfähigkeit“ zu zweifeln: „Kann eine Generation, die so ein starkes Bedürfnis nach Familie hat, überhaupt beziehungsunfähig sein?“

Er wirft die Vermutung in den Raum, dass es sich viel weniger um die Angst vor einer Beziehung als mehr um fehlende Lust darauf handelt. „Vielleicht verzögert sich alles. Vielleicht wollen sie wirklich erst einmal alles ausprobieren, sind erst, wenn sie die magische 30 überschritten haben, bereit für etwas Festes.“ Die Jugendlichen wollen seiner Meinung nach selbst bestimmen, wo die Reise hingeht. Er überlegt: „Vielleicht, ja vielleicht leben sie in 50 Jahren in einer Gesellschaft, in der es normal ist, keine monogamen Beziehungen mehr zu führen. Wer weiß.“