10 Jahre danach
Chronik: Wie das Hochwasser 2013 die Regionen Passau und Deggendorf heimsuchte

02.06.2023 | Stand 15.09.2023, 23:20 Uhr

Verschwommen im wahren Wortsinn ist Passau auszumachen, irgendwo da in der Wasserwüste. PNP-Fotograf Thomas Jäger hilft „seiner“ Stadt in diesen Tagen auf seine Weise: Er dokumentiert tagelang die Katastrophe, stundenlang in Gummistiefeln unterwegs (wie viele andere auch), die Kamera hoch in der Hand, damit sie nicht nass wird. −Archivbild: Jäger

Dramatische Tage spielten sich im Juni 2013 in Niederbayern ab, als ein verheerendes Hochwasser die Region heimsuchte. Wie sich die Flut über die Juni-Tage ausgebreitet hat, lesen Sie in unseren Chroniken für Stadt und Landkreis Passau und den Landkreis Deggendorf:





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Wie die Flut in die Stadt Passau kam:



31. Mai, Freitag: Es regnet nicht, es schüttet. Entlang einer Frontalzone kommt es Ende Mai zu Starkniederschlägen, die in einen 96-stündigen Dauerregen (30. Mai bis 2. Juni) gipfeln. Im Südosten Bayerns fallen in diesen vier Tagen über 140 Liter Regen pro Quadratmeter. Rund 70 Liter sind normal – im ganzen Monat Mai.

Der Deutsche Wetterdienst registriert den zweitnassesten Mai seit Beginn der Messungen im Jahr 1881. Die deutschlandweit größte 24-stündige Niederschlagsmenge fällt am 26. Mai 2013 mit 97,3 l/qm in St. Englmar im Bayerischen Wald. Ab Mitte Mai entsteht eine scharf ausgeprägte Luftmassengrenze, die kühle Meeresluft in Westeuropa von subtropischer Warmluft in Osteuropa trennt. Das führt zu extremem Regen, der auf bereits durchweichte Wiesen und Felder fällt, denn schon am Pfingstmontag (20. Mai 2013) treten im Südwesten zahlreiche Flüsse über die Ufer.

1. Juni, Samstag: Regen, Regen und kein Ende. Zu Tief „Dominik“ gesellen sich vom 30. Mai bis 3. Juni die Bodentiefdruckgebiete „Frederik“ und „Günther“ und sorgen über dem östlichen Mitteleuropa für ergiebigen Dauerregen. Die Passauer richten sich jetzt ernsthaft auf Hochwasser ein, wer Spundwände hat vor Fenster, Türen oder Toreinfahrten, der montiert sie jetzt. Die Feuerwehr befüllt Sandsäcke und liefert sie an den üblichen Stellen aus: Donaulände, Fritz-Schäffer-Promenade (Inn), Innstadt (Lederergasse, Löwengrube...), Ort, Hals... Alles passiert routinemäßig.

2. Juni, Sonntag: Der Donaupegel beträgt 8 Meter um 0 Uhr und schnellt innerhalb von 24 Stunden nach oben auf 11,50 Meter – „Tendenz weiter steigend“. Aus der üblichen Kurve im Diagramm des Hochwasser-Nachrichtendiensts Bayern (hnd) wird ein steiler Kegel. Die Internet-Adresse „hnd.bayern.de“ des Bayerischen Umweltamts wird wohl zur meistgeklickten, nicht nur in Passau und Umgebung.

3. Juni, Montag: „Passau erlebt eine Jahrhundert-Katastrophe“ steht über der ersten Lokalseite der PNP. Der flächendeckende Dauerregen trifft viele Landstriche, nicht nur in Bayern. „Aber Passau hat es dieses Mal besonders schlimm getroffen“, stellt die PNP schon unter dem Eindruck des 2. Juni fest.

3. Juni, Montag (Fortsetzung): Die Rathäuser (altes und neues) an der Donau sind längst überschwemmt, der städtische Krisenstab ist deshalb übersiedelt ins Bürgerbüro in der hochwassersicheren Vornholzstraße.

Die Entscheidungen von dort: Um 7.30 Uhr wird das Gas abgestellt. Um 8.13 Uhr sperrt man die Innbrücke auch für Fußgänger. Eingeschlossene Bewohner werden mit dem Boot evakuiert; ein Hubschrauber holt eine 91-Jährige im Ort aus ihrer Wohnung

10.30 Uhr: Der Strom wird abgedreht für den Neumarkt und die Fußgängerzone, nur die Stadtgalerie hat Notstrom.

Die Donau steigt kurz vor Mitternacht auf 12,89 Meter, den höchsten Stand seit 1501.

4. Juni, Dienstag: Das Wasser weicht langsam. Die Innenstadt gleicht längst einem Geister-Ort, der Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Ein Politiker-Tross mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer an der Spitze begutachten am Vormittag das Hochwasser. Im Herbst 2013 stehen Bundestags- und Landtagswahl auf dem Programm. Bund und Land stellen großzügige Hilfen in Aussicht. An der Uni versammeln sich 1000 Helfer, um aufzuräumen.

5. Juni, Mittwoch: Die Donau sinkt unter 9 Meter, der Inn unter 7. Das Aufräumen auf breiter Front beginnt. Die Schulen bleiben die ganze Woche geschlossen. Vor allem Donau und Ilz riechen wie ein Heizungskeller, aufgeschwemmte Öltanks sind ausgelaufen.

6. Juni, Donnerstag: Schlamm, Schlamm, Schlamm. Hoch „Sabine“ trocknet ihn schneller als vielen lieb ist, denn er wird steinhart. Geschädigte erhalten 1500 Euro Soforthilfe. Trinkwasser gibt‘s zwar wieder überall, die Stadtwerke empfehlen aber, es abzukochen; die Brunnen auf der Soldatenau wurden überschwemmt.

7. Juni, Freitag: Ein Pendelbus zwischen Stadttheater und Achleiten ist eingerichtet. Der FC Bayern kündigt ein Benefizspiel an; 12000 Zuschauer sehen es am 1. September im Dreiflüssestadion.

8. Juni, Samstag: Die schlimmste Woche in Passaus jüngerer Geschichte ist vorbei, noch einmal strömen Heerscharen von Helfern in die Stadt. Alle sind sich einig: Es grenzt an ein Wunder, dass niemand ums Leben kam.

Wie die Flut in den Landkreis Passau kam:



Sonntag, 2. Juni 2013
Zur Mittagszeit steht der Inn bereits bei 7,20 Meter, gut drei Meter über normal. Die alte Innbrücke wird zur Sicherheit gesperrt.
In Reding müssen erste Straßen abgesperrt werden; die Innlände in Neuhaus steht unter Wasser.
Rund 200 Feuerwehrleute und weitere Helfer beginnen im Sandsacklager in Tiefenbach damit, Säcke zu befüllen. Am Ende werden sie etwa 200 Tonnen Sand auf 12000 Säcke verteilt haben.
Die erst kürzlich in Betrieb genommene Kreiseinsatzzentrale im Landratsamt Passau steht vor ihrer ersten Bewährungsprobe.
Um 19 Uhr ruft Landrat Franz Meyer den Katastrophenfall aus.

Montag, 3. Juni 2013
• 6 Uhr: Über Nacht ist der Innpegel schnell gestiegen. Am Morgen steht er schon bei 9,60 Meter.n In Schärding ist bereits der Hochwasserschutz überflutet. Rund 500 Menschen müssen ihre Häuser verlassen.An der Maria-Ward-Realschule fällt der Unterricht aus. Sie steht auf einer Insel im Inn und ist von der Flut komplett eingeschlossen. Die Schäden werden wenig später auf 1,5 Millionen Euro geschätzt.

• Weite Teile von Reding, Mittich und Afham sind überflutet, teils bis zum ersten Stock, Strom und Telefon fallen aus. Noch am Vormittag werden rund 70 Anwohner evakuiert. Auch Hunderte Schweine der örtlichen Landwirte wurden in Sicherheit gebracht.
• Um 12.30 Uhr erreicht der Innpegel an der Messstelle Schärding den Scheitelpunkt: 10,56 Meter. Normal wären vier Meter.Dienstag, 4. Juni 2013n So schnell wie es kam, so schnell zieht sich das Hochwasser zurück – zum Vorschein kommt ein Bild der Verwüstung. In Reding und Mittich sind einige Häuser noch vom Wasser eingeschlossen.n Auch mit Unterstützung der Bundeswehr beginnen die Aufräumarbeiten in Neuhaus. n Rund 20 Quadratkilometer des Gemeindegebiets waren überflutet, wie Bürgermeister Josef Schifferer Ministerpräsident Horst Seehofer berichtet, der sich vor Ort einen Eindruck verschafft. Auch Kanzlerin Angela Merkel ist in Passau. Bund und Land stellen finanzielle Hilfen in Aussicht.

Mittwoch, 5. Juni 2013
• Während sich vor allem in Mittich der Sperrmüll stapelt, schaufeln die Neuhauser tonnenweise abgelagerten Innsand zurück in den Fluss. Hilfe bekommen die Bürger durch rund 220 Kräfte von Feuerwehren und Bundeswehr.

Donnerstag, 6. Juni 2013
• Viele landwirtschaftliche Felder stehen immer noch unter Wasser, etwa in der Redinger Au. Dort steht ein mehrere Quadratkilometer großer See, bis zu zwei Meter tief. Schlamm blockiert den Abfluss. Bagger müssen ran.
Das Landratsamt schickt Mitarbeiter los, um die Schäden zu erfassen. In Neuhaus sind rund 180 Häuser beschädigt worden.

Freitag, 7. Juni 2013
• Die Gemeinde Neuhaus richtet ein Spendenkonto ein. Sachspenden koordiniert Cornelia Wasner-Sommer. Binnen weniger Tage melden sich 500 Spender bei ihr.

• Dem Landratsamt liegen bereits über 200 Anträge auf Soforthilfe vor. 200000 Euro wurden bereits zur Auszahlung freigegeben.

Samstag, 8. Juni 2013
• Um 19 Uhr wird der Katastrophenfall für beendet erklärt.



Wie die Flut in den Landkreis Deggendorf kam:



Sonntag, 2. Juni: Es wird für den Montag ein Pegelstand von 7,50 Meter erwartet – Deggendorf richtet sich auf ein außergewöhnliches Hochwasser ein.

Montag, 3. Juni: Die Prognose wird auf 8,30 Meter angehoben, was bedeutet, dass Deiche im Landkreis überspült werden. Eine Situation, die es noch nie gab. Der Krisenstab entscheidet, dass am Dienstagvormittag mehrere Orte evakuiert werden: Niederalteich, Gundelau, Thundorf, Kugelstadt, Aicha an der Donau, Altholz. Weitere Orte sollen bis zum Abend geräumt werden. Im Fischerdorfer Feuerwehrhaus informiert OB Christian Moser die Bürger. „Bereiten Sie sich sicherheitshalber auf den schlimmsten Fall vor“, sagt er ihnen. Und: „Wenn der Isardeich übergeht, haben wir in Altholz ein Problem.“

Dienstag, 4. Juni: Bundeswehrsoldaten geben aus Sicherheitsgründen den Versuch auf, den Isardamm zu verteidigen. Aufgrund der dramatischen Entwicklung wird nun auch die Evakuierung von Fischerdorf und Natternberg-Siedlung beschlossen.

Am späten Vormittag bricht der Damm. Erste Häuser in Altholz werden überflutet. Etwa zur selben Zeit bricht auch der Deich an der Donau einige Kilometer flussaufwärts von Winzer auf 500 Metern Länge. Winzer bleibt verschont, doch ab dem Nachmittag wird Niederalteich überflutet.

Um Fischerdorf zu schützen, wird auf der Autobahn ein provisorischer Damm geschüttet. Doch der kann das Wasser nicht abhalten. Ab dem späten Nachmittag werden Fischerdorf und Natternberg-Siedlung und schließlich auch ein Teil Natternbergs überflutet.

Mittwoch, 5. Juni: Das Wasser ist auch in der Nacht weiter gestiegen. In Fischerdorf steht es nun bis zu drei Meter hoch.

An anderen Stellen geht der Kampf weiter, die Gefahr von Deichbrüchen ist nach wie vor groß. Auf der linken Donauseite sind vor allem Hengersberg und der Bereich zwischen Winzer und Neßlbach gefährdet. Ein Dammeinbruch an der Ohe wird im letzten Moment entdeckt, Hengersberg und Altenufer entgehen knapp einer Katastrophe. Auf der Staatsstraße wird ein Damm geschüttet, um Winzer zu schützen.

Donnerstag, 6. Juni: Der Donaupegel fällt, doch bis das Wasser aus den überschwemmten Poldern abfließen kann, wird es noch Tage dauern.

Samstag, 8. Juni: Die Hilfsbereitschaft ist groß, aus ganz Deutschland kommen Spenden, die im Parkhaus Deichgärten gesammelt werden.

Montag, 10. Juni: Das Aufräumen beginnt. Unter dem Motto „Deggendorf räumt auf“ helfen viele Studenten mit.

Dienstag, 11. Juni: Wieder eine dramatische Nacht: Die Bresche im Deich muss geschlossen werden, weil eine neue Hochwasserwelle kommt. Es gelingt mit über 1000 Helfern, die per Hand 50000 Sandsäcke platzieren.

Tagsüber werden die die Schäden erfasst. Es wird deutlich, dass Heizöl, das in die Mauern eingedrungen ist, ein großes Problem ist.

Samstag, 15. Juni: Der Wasserstand in der Donau ist nun niedrig genug, dass die Deiche geöffnet werden können und in den folgenden Tagen das letzte Wasser abfließen kann. Natternberg-Siedlung war am längsten überflutet.

Montag, 10. Juli: In Fischerdorf wird das erste Haus abgerissen. 228 werden im Landkreis in den kommenden Monaten und Jahren noch folgen.