Traunstein/Kiefersfelden
„Kontraproduktiv und hochgefährlich“: Gutachten zu Gifttod eines 89-Jährigen

Prozess gegen Tochter vor dem Schwurgericht Traunstein fortgesetzt

13.03.2023 | Stand 17.09.2023, 1:02 Uhr
Monika Kretzmer-Diepold

Den schleichenden Gifttod eines 89-jährigen Mannes aus Kiefersfelden beschäftigt weiterhin das Schwurgericht Traunstein. Seine 64-jährige Tochter Inge S. soll dafür verantwortlich sein. Die gleichzeitige Einnahme hoher Dosen an Medikamenten war äußerst gefährlich, wie am Montag aus Gutachten deutlich wurde.



Der alte Herr mit vier Kindern aus erster Ehe, darunter die Angeklagte, war lange Zeit rüstig gewesen. Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau im April 2020 blieb er allein zurück in seinem Haus. Hauptsächlich kümmerte sich danach die 64-Jährige als älteste Tochter um ihn. Altersgemäß und durch zwei Stürze verschlechterte sich sein Allgemeinzustand. Ab Sommer 2021 waren Pflegekräfte im Einsatz. Die Medikamente vorzubereiten, behielt sich immer die 64-Jährige vor.

Mediziner stellen lebensgefährliche Konzentrationen fest



Ende Oktober 2021 musste der 89-Jährige ob seiner schlechten Verfassung ins Romed-Klinikum Rosenheim eingeliefert werden. Dort stellten Mediziner eine Intoxikation mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln in teils lebensgefährlichen Konzentrationen fest. Die Klinik informierte die Kripo. Gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte holte die Familie den Vater wieder nach Hause. Abends war der 89-Jährige apathisch und nicht mehr ansprechbar. Sanitäter und Polizei sorgten für den Rücktransport nach Rosenheim. Der Mann verstarb am 16. November 2021, gut zwei Wochen nach seiner erneuten Einlieferung in die Klinik. Gegen alle Geschwister liefen Ermittlungen an. Die Verfahren gegen die Schwester und die beiden Brüder der Angeklagten wurden eingestellt, nachdem sich alle Verdachtsmomente auf die 64-Jährige konzentrierten.

Inge S. soll aus den Mordmotiven Heimtücke und Habgier heraus gehandelt haben. Der Vater hatte ihr gemäß Staatsanwalt Wolfgang Fiedler sämtliche Bankvollmachten erteilt. Im Herbst 2020 befanden sich rund 700000 Euro auf seinen Konten. Mit Überweisungen von 20000 Euro an jedes Kind im Januar 2021 war der 89-Jährige einverstanden. Ohne sein Wissen soll die 64-Jährige im Mai 2021 an sich und ihre drei Geschwister nochmals je 92875,33 Euro transferiert haben – als Vorgriff auf das Erbe. Etwa im Oktober 2021 soll der 89-Jährige diese Beträge zurückgefordert haben. Vor Gericht behauptete die Angeklagte, das stimme nicht. Sie habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Woher die nicht verschriebenen Medikamente rührten – dazu wisse sie nichts. Sie deutete an, Pflegerinnen könnten dahinter stecken.

Gutachterinnen sprechen über letzte Lebenstage



Drei Gutachterinnen vom Rechtsmedizinischen Institut an der Uni München informierten über Einzelheiten zum Zustand des 89-Jährigen in seinen letzten Lebenstagen, über das Ergebnis der Obduktion sowie über die toxikologischen Untersuchungen. „Für sein Alter hatte der Mann gesunde Organe. Wir konnten nach der Obduktion keine Todesursache benennen“, betonte Prof. Dr. Bettina Zinka. Prof. Dr. Gisela Skopp erläuterte, die Haarproben zeigten eine Aufnahme der Wirkstoffe Morphin, Oxycodon, Diazepam, Melperon und Diphenhydramin. Diazepam führe zu Bewusstseinsschwäche mit erhöhter Sturzgefahr und solle älteren Menschen nur in Ausnahmefällen gegeben werden. Andere der Substanzen hätten Blutdruckabfall, Benommenheit und Müdigkeit zur Folge. Diazepam und anderes seien dem 89-Jährigen in den letzten ein bis fünf Monaten vor der Probenentnahme im Krankenhaus Anfang November 2021 verabreicht worden, einige Substanzen davon in wesentlich höheren Dosen.

Die forensische Toxikologin Dr. Gabriele Roider war mit Urin- und Blutproben noch zu Lebzeiten des Mannes und mit Untersuchungen von Asservaten nach der Obduktion befasst. Sie stellte die nachgewiesenen Wirkstoffe mit den jeweiligen Stoffwechselprodukten dar. Klar sei: „Der 89-Jährige hat zeitnah zu seinem Tod eine Vielzahl von Medikamenten aufgenommen.“ Die gleichzeitige Anwendung von zentral dämpfenden Wirkstoffen könne die Einzelwirkungen potenzieren. Außerdem hatte Roider sichergestellte Tabletten und teils noch befüllte Medikamentenboxen überprüft.

Medikamente waren nicht verordnet



Zinka fasste zusammen, für diese Medikamente habe keine Indikation vorgelegen, niemand habe sie verordnet. Die zeitgleiche Einnahme sei kontraproduktiv und hochgefährlich gewesen und könne zu nicht kalkulierbaren Folgen führen. Der 89-Jährige hätte jederzeit sterben können, auch wenn die Vergiftung nicht als Todesursache bezeichnet werden könne. Das Ganze bedeute eine „lebensgefährliche Behandlung“.

Der Prozess geht am Montag, 27. März, mit dem psychiatrischen Gutachten und möglicherweise den Plädoyers weiter. Das Urteil könnte dann am Donnerstag, 30. März, folgen.