Traunstein
Querdenker-Halbwahrheiten im Faktencheck

Redner Dr. Christian Kreiß bezieht sich in seiner Corona-Maßnahmen-Kritik auf Schweden und globale Armut

20.11.2020 | Stand 22.09.2023, 2:20 Uhr

Dr. Christian Kreiß ist gebürtiger Münchener und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Achen. −Foto: Effner

Volkswirt und Ex-Investmentbanker Dr. Christian Kreiß hat als Redner auf der Querdenken-Demonstration der Politik und den Medien schwere Vorwürfe gemacht. Die Maßnahmen seien völlig unverhältnismäßig, die Berichterstattung unseriös, verschleiert und teils gesteuert. Die Heimatzeitung hat zwei – bei Kritikern der Corona-Maßnahmen sehr beliebten und auch von Dr. Kreiß verwendeten – Behauptungen unter die Lupe genommen: Der Sonderweg von Schweden und die steigende Armut auf der Welt durch die Virus-Bekämpfung.

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Dr. Kreiß behauptete, dass das skandinavische Land im Vergleich zu Deutschland pro 100000 Einwohner nur ein Drittel der Toten zu betrauern hat. Stand gestern verzeichnete das Land im gesamten 6164 Todesfälle. Bei 10,23 Millionen Einwohner sind das 0,06 Prozent. In Deutschland – bei 12833 Toten und 83 Millionen Einwohner – sind es 0,015 Prozent. Diese Aussage ist also falsch: Prozentual gesehen ist die Todesrate in Deutschland viermal geringer. Verschwiegen hat Dr. Kreiß auch, wie unterschiedlich die beiden Länder sind. Schweden hat laut der Statistikwebseite statista.com eine Bevölkerungsdichte von 25 Einwohnern pro Quadratkilometer. In Deutschland hingegen sind es 237 Einwohner pro Quadratkilometer – also mehr als neunmal so viele. Außerdem hat Schweden mit rund 50 Prozent den höchsten Anteil an Single-Haushalten in der EU. Topographisch vergleichbarer und direkt "in der Nachbarschaft" liegen die Länder Norwegen und Finnland. Beide zusammen haben in etwa so viele Einwohner wie Schweden, beklagen aber nur einen Bruchteil der Todesfälle: In Norwegen fielen 294, in Finnland 371 Menschen dem Virus zum Opfer.

Für viele Experten und die jeweiligen Regierungen der Länder ist das ein klarer Beweis für die Wirksamkeit des im Frühjahr für zwei Monate verhängten, harten Lockdowns. In Schweden explodieren gerade die Infektionszahlen, es werden erste Lockdown-Maßnahmen ergriffen – und die Kritik an dem Sonderweg seitens der Wissenschaft wird immer lauter. Eine der Wortführerin ist Claudia Hanson, Professorin für öffentliche Gesundheit am Karolinska Institutet in Stockholm und Gründungsmitglied des schwedischen Wissenschaftsforums Covid 19. Sie sagte in einem Interview mit dem Tagesspiegel im Bezug auf die Todesfälle in Schweden: "Der größte Teil wäre wahrscheinlich zu vermeiden gewesen, wenn man Ende Februar gezielt reagiert hätte wie Finnland und Norwegen."
Ein ebenso häufig verwendetes Argument gegen die Corona-Maßnahmen ist der immense Anstieg von Armut. "Die Maßnahmen könnten laut UN bis zu 60 Millionen Menschen weltweit in extreme Armut stürzen", meinte Dr. Kreiß dazu.

Richtig ist, dass es diese Prognose gibt – auch wenn die Zahl ursprünglich aus dem Weltarmutsbericht der Weltbank und nicht von den Vereinten Nationen direkt stammt. Die Zahl ist bereits im April veröffentlicht worden und wurde mittlerweile sogar nach oben korrigiert, auf gar 150 Millionen Menschen.

In dem Papier wird aber auch explizit darauf hingewiesen, dass dieser Fall eintreten kann, wenn nicht gehandelt werden würde. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass aus demselben Bericht Folgendes hervorgeht: Die Zahl der Armen sei seit 1990 weltweit von 1,9 Milliarden Menschen um fast zwei Drittel gesunken. Und das, obwohl die Weltbevölkerung in dieser Zeit um 2,2 Milliarden Menschen gewachsen ist. Die Armutsrate hat sich demnach von 36 auf neun Prozent verringert. Als arm gilt in dieser Rechnung, wer mit weniger als 1,90 Doller am Tag auskommen muss.

Die nun sorgenbereitenden Prognosen sind auch an Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) nicht vorbeigegangen, der sagte, dass die Pandemie "erstmals seit Jahren wieder zum Anstieg von Armut und Hunger in der Welt" führt. Er appellierte an die europäischen Länder nun umso mehr zu tun, um die Entwicklungsländer zu stabilisieren. Im Übrigen berichtete darüber die gesamte Medienlandschaft – die von Dr. Kreiß zur gesteuerten "Staatspresse" erklärte Tagesschau titelte schon am 20. April: "Millionen Kindern droht der Hungertod".

Auch die Zahl selbst ist von Dr. Kreiß nicht näher eingeordnet worden. Würde nämlich der Fall eintreten, dass 150 Millionen Menschen im kommenden Jahr in die extreme Armut gedrängt werden, bedeutet das, dass die Welt damit "nur" auf den Stand von 2017 zurückfallen würde. Das macht die Einzelschicksale kaum erträglicher, aber zeigt, dass es nicht all zu lange her ist, als man sich noch auf selbigem Niveau befand.