Unterhaltsame Doppelstunde Geschichte
Kritik zu Hitlers "Mein Kampf" als Musical am Theater an der Rott

26.09.2021 | Stand 21.09.2023, 4:00 Uhr

Als Talkshow-Moderator gestaltet Norman Stehr das Ein-Personen-Stück. Links im Bild Hitlers Mutter Klara. −Foto: Sebastian Hoffmann

Das Theater an der Rott in Eggenfelden (Landkreis Rottal-Inn) ist am Samstag mit dem Musical "Mein Kampf", basierend auf dem Buch von Adolf Hitler, in die Saison gestartet.

Was geht uns Adolf Hitlers Propagandaschrift "Mein Kampf" heute noch an? Leider viel. Leider gibt es Anlass genug, sich für den Aufstieg und die Gedankenwelt des Diktators zu interessieren, der die Menschheit in unermessliches Leid gestürzt hat.



Kaum zu fassen: Heute noch stimmen 33 Prozent der Bürger ganz oder teilweise der Ansicht zu, die Deutschen seien "den anderen Völkern überlegen". 35 Prozent sind überzeugt, der "Einfluss der Juden" sei zu groß – so belegt es die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020.

Hitler ist lange vorbei? Nein, er wirkt in Urteile und Vorurteile hinein, seine "fanatische Verkündigung der eigenen Lehre", wonach Demokratie nur die "Majorität der Dummheit und der Feigheit" sei, ist erschreckend erfolgreich bis heute.

Experiment ist gelungen

Darum ist es keines Spotts, sondern aller Ehren wert, dass das Theater an der Rott in Eggenfelden sich traut, mit einer Uraufführung zur rechten Ideologie in die Spielzeit 2021/2022 zu starten. Nun darf wieder im Haus gespielt werden, im Rottal hat man sich für Mindestabstände und Maskenfreiheit am Platz entschieden, die Laufwege zum WC sind mit Plexiglasscheiben separiert, jedes zweite Waschbecken ist mit Holzabdeckung gesperrt, so viel Vorsicht herrscht noch selten wo.

"Mein Kampf" als Ein-Personen-Musical, das soll bewusst schräg klingen, und das Experiment ist gelungen, der Premierenabend am Samstag ist kurzweilig, und als Teil der Jugendsparte "Junge Hunde" besonders auch Schulklassen zu empfehlen. So unterhaltsam kann eine Doppelstunde Geschichte sein: Das Publikum darf an Tischchen platziert auf der Theaterbühne sitzen, das Stück spielt in der Studiokulisse einer Talkshow mit Schreibtisch und Sessel auf Rollen, wie man das von Harald Schmidt, Jan Böhmermann und Oliver Welke kennt (Ausstattung: Marion Käfer).

Locker-süffisante Lesung aus Biografie

Schauspieler und Sänger Norman Stehr gibt im blauen Anzug und weißen Shirt den smarten Moderator, Thema seiner heutigen Show ist "Mein Kampf", Musikspartenleiter und Musicalkomponist Dean Wilmington ist als "Sidekick" und Einmann-Shwowband am E-Piano präsent. Kein Hitler tritt hier auf, niemand spielt Ball mit einem Globus wie in Charlie Chaplins "Der große Diktator", keine Showgirls huldigen dem Führer wie in Mel Brooks’ "The Producers". Ideengeber, Autor und Regisseur Malte Lachmann, der 2022 Schauspieldirektor in Lübeck wird, hat eine eigene kleine Form gefunden für diesen höchst pikanten Stoff – und ist in keinen Fettnapf gestolpert.

In der künstlerischen Form ist das Musical "Mein Kampf" in weiten Teilen eine Lesung aus Hitlers Buch, das nach seinem misslungenen Putsch 1924 im Gefängnis und 1925/26 während seines Redeverbots in Bayern entstand. Norman Stehr liest und kommentiert zum einen locker-süffisant Hitlers Biografie vom Abbruch der Realschule und Scheitern an der Kunstakademie Wien bis zur Zerstörung der parlamentarischen Demokratie von innen heraus. Zum anderen fasst er zentrale Nazithesen zusammen, von der Rassentheorie bis zur fanatischen Propaganda – all das gelingt tatsächlich im Talkshowformat.

Kompositionen zitieren Deutsches

Fließend geht purer Text über in musikalisch begleitete Kommentierung und in Songs (samt Choreografie von Daniel Morales Pérez). Die Kompositionen zitieren Deutsches wie Richard Wagner, Wacht am Rhein, "Ein Freund, ein guter Freund" der Comedian Harmonists, karikieren Hitlers schöngefärbte Erinnerungen mit süßlichem "Ah-ah-ah"-Schlagerkitsch und Wiener Walzer, jubeln ihm Disco, Techno, Jazz und viel Liedermachersound unter, zu dem Stehr seinen dunklen Bariton im Sprechgesang erklingen lässt.

Die ganz umwerfenden Musicalnummern fehlen ebenso wie eine emotional berührende "Geschichte" im Stück, oder Ideen dazu, wie wir unsere Gesellschaft heute wappnen gegen die immer noch wirksamen Mechanismen der Massenpsychologie.

Im Interview mit unserer Zeitung sagte Autor Lachmann, zentrales Anliegen sei die Frage: Wenn Hitlers Sicht auf Welt und Mensch verwerflich ist, worauf gründen wir unsere eigenen Werte? Statt das im Stück auszuarbeiten, wirft er das Publikum ganz am Ende in Hau-Ruck-Brecht-Manier mit der offenen Frage aus dem Saal. Die Antwort kann nur lauten: Humanismus, universelle Menschenrechte und die gute, alte Nächstenliebe.

Wieder am 28./29./30.9., 2./21./ 27./28.10., Info unter 08721/1268980 und auf der Internetseite des Theaters